Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
steinernen Arm des Galgens sich bewegten.
Unter allen Gesichtern, die der Schein mit Scharlach färbte, schien eines vor allen in Betrachtung der Tänzerin versunken zu sein. Es war eine strenge, ruhige und düstere Männergestalt. Jener Mann, dessen Anzug in der ihn umgebenden Menge verborgen blieb, schien nicht über fünfunddreißig Jahre alt zu sein; dennoch waren seine Schläfen schon kahl, und kaum bemerkte man auf ihnen einige Büschel dünner und grauer Haare. Eine hohe und breite Stirn begann, sich mit Runzeln zu durchfurchen; aber aus seinen tiefliegenden Augen funkelte Jugend, Leben und Leidenschaft. Er heftete sie fortwährend auf die Zigeunerin, und während das muntere sechzehnjährige Mädchen zum Vergnügen aller tanzte und hüpfte, schien er selbst immer düsterer zu werden. Von Zeit zu Zeit vereinten sich ein Lächeln und ein Seufzer auf seinen Lippen; allein stets war das Lächeln schmerzhafter als der Seufzer.
Das Mädchen hielt endlich, außer Atem, im Tanzen inne; das Volk klatschte lebhaft Beifall. – „Djali“, rief die Zigeunerin. Da sah Gringoire, wie eine kleine, weiße, muntere Ziege mit vergoldeten Hörnern, Füßen und Halsband hervortrat. Er hatte sie noch nicht bemerkt, denn sie duckte sich auf einen Zipfel des Teppichs und sah ihrer Herrin zu, wie sie tanzte.
„Djali“, sagte die Zigeunerin, „jetzt ist die Reihe an dir“, fuhr sie fort, „in welchem Monat sind wir jetzt?“ – Die Ziege hob ihren Vorderfuß und schlug einmal auf die Trommel. Man befand sich wirklich im ersten Monat des Jahres. Das Volk klatschte Beifall.
„Djali“, fragte das junge Mädchen aufs neue, „welch Datum schreiben wir heute?“ Djali erhob ihren kleinen goldenen Fuß und schlug sechsmal auf die Trommel. „Djali“, fuhr die Zigeunerin fort, indem sie ihre Trommel stets auf andere Weise stellte, „was ist es jetzt an der Zeit?“ Djali tat sieben Schläge, in demselben Augenblick schlug die Uhr des Pfeilerhauses sieben.
Das Volk staunte. „Dabei ist Zauberei im Spiel“, sagte eine unheilvolle Stimme im Volke. Es war die des Kahlkopfes, der die Zigeunerin nicht aus den Augen verlor. Sie zitterte und wandte sich weg; jedoch Beifallklatschen verdeckte den düsteren Ausruf. Dieser verwischte jene Stimme so vollkommen aus ihrer Seele, daß sie fortfuhr, ihre Ziege anzureden: „Djali, wie macht Meister Guichard Grandremy, Kapitän der Pistoliers der Stadt Paris, bei der Prozession von Chandeleur?“
Djali stellte sich auf die Hinterpfoten, fing an zu meckern und ging mit artigem Ernst im ganzen Kreise der Zuschauer umher, daß alle in lautes Gelächter ausbrachen.
„Djali“, begann das Mädchen aufs neue, kühn geworden durch das stets wachsende Vergnügen des Publikums; „wie macht Meister Jacques Charmolue, Prokurator des Königs am geistlichen Hofe?“ Die Ziege setzte sich auf die Hinterpfoten, fing an laut zu meckern, und bewegte die Vorderpfoten auf so sonderbare Weise, daß Jacques Charmolue in Bewegung und Stellung zu schauen war.
Das Volk lachte und lärmte noch lauter. „Verbrechen! Gottloser Spott!“ rief der Kahlkopf. Die Zigeunerin wandte sich noch einmal um: „Oh“, sagte sie, „der häßliche Mann!“ Dann zog sie die Unterlippe über die obere und schnitt ein kleines, wie es schien, ihr gewohntes Mäulchen, schlug eine Pirouette auf der Ferse und schickte sich an, in ihrer Trommel die Gaben der Menge zu sammeln. Es regnete kleine und große Groschen, Liards und Targes. Auf einmal ging sie auf Gringoire zu. Gringoire steckte so unbesonnen die Hand in die Tasche, daß die Zigeunerin stehen blieb. „Teufel!“ sprach der Dichter, als er in seiner Tasche die Wirklichkeit, das absolute Nichts, bemerkte. Das hübsche Mädchen stand aber immer noch da, betrachtete ihn mit großen Augen, reichte ihm die Trommel hin und wartete. Gringoire schwitzte dicke Tropfen.
Hätte er ein Peru in der Tasche gehabt, er hätte es der Tänzerin gegeben. Allein Gringoire hatte kein Peru, und Amerika war noch nicht entdeckt. Glücklicherweise kam ihm ein unerwarteter Vorfall zu statten.
„Willst du gehen, ägyptische Heuschrecke!“ rief eine heisere Stimme aus dem dunkelsten Winkel des Platzes. Das junge Mädchen wandte sich erschrocken um. Es war nicht mehr die Stimme des Kahlkopfes, sondern die eines Weibes; eine fromme und boshafte Stimme. Übrigens erweckte dieser Schrei, der die Zigeunerin schreckte, die Munterkeit einer dort herumstreichenden Kindergruppe. „Es ist die
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