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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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die ernste Gestalt beschaute, verschwand der ironische Ausdruck seines düstern Gesichts, den Coictiers Gegenwart erweckte, allmählich, gleich der Dämmerung, die am Horizonte der Nacht weicht. Ernst und schweigend setzte er sich in seinen Stuhl; sein Arm ruhte wieder auf dem gewohnten Platz des Tisches und seine Stirne auf der Hand. Nach einigen Augenblicken des Nachsinnens gab er seinen beiden Gästen ein Zeichen, sich zu setzen, und redete den Gevatter Tourangeau an: „Ihr wollt mich um Rat fragen, Meister? In welcher Wissenschaft?“
    „Ehrwürdiger“, sprach der Gevatter, „ich bin sehr krank, sehr krank! Man sagt, Ihr wärt ein großer Äskulap, und ich kam zu Euch, mir ärztlichen Rat zu holen.“
    „So?“ fragte der Archidiakonus, das Haupt erhebend. Er schien sich einen Augenblick zu besinnen und begann dann aufs neue: „Gevatter Tourangeau, weil dies Euer Name ist, wendet das Haupt und Antwort findet Ihr schon geschrieben auf der Mauer.“ Der Gevatter Tourangeau gehorchte und las über seinem Haupte in der Mauer die Inschrift: „Die Medizin ist die Tochter der Träume. Jamblichus.“
    Der Doktor hatte die Frage seines Gefährten mit Ärger vernommen, den Claudes Antwort verdoppelte. Er neigte sich zum Ohr seines Begleiters und sprach leise genug, um von Claude nicht gehört zu werden: „Sagt’ ich Euch nicht, er sei verrückt? Ihr wolltet ihn durchaus sprechen!“ – „Der Verrückte könnte recht haben“, sprach jener mit bitterem Lächeln in demselben leisen Ton. – „Wie’s beliebt“, erwiderte Coictier trocken. Dann wandte er sich zum Archidiakonus: „Ihr seid kurz angebunden, Dom Claude, und mit Hippokrates werdet Ihr ebenso schnell fertig, wie ein Affe mit einer Nuß. Die Medizin ein Traum! Ich glaube, die Apotheker würden Euch steinigen, wären sie hier. Ihr leugnet also den Einfluß der Liebesgetränke aufs Blut und der Salben aufs Fleisch! Ihr leugnet die ewige Pharmazie der Blumen und Metalle, die man Welt nennt, und die ganz besonders für den ewigen Kranken geschaffen ist, den man Mensch nennt!“
    Kalt erwiderte Dom Claude: „Ich leugne weder die Pharmazie noch den Kranken. Ich leugne den Arzt.“
    „Also ist’s falsch“, begann Coictier leidenschaftlich aufs neue, „daß man meint, die Gicht sei eine innere Flechte, daß man eine Schußwunde durch die Anwendung einer gebratenen Maus heilt und daß frisches, passend in die Adern gegossenes Blut alle Venen verjüngt?“
    Der Archidiakonus erwiderte kalt: „Über gewisse Dinge denke ich auf meine Weise.“ Coictier wurde rot vor Zorn.
    „Still, still, guter Coictier, ärgert Euch nicht“, sagte der Gevatter Tourangeau; „der Herr Diakonus ist unser Freund.“ Coictier beruhigte sich, murmelte aber zwischen den Zähnen: „Er ist verrückt.“
    „Gottes Ostern! Meister Claude“, begann der Gevatter nach einigem Schweigen, „ich fühle Zwang in Eurer Nähe. Um zwei Dinge wollte ich Euch um Rat fragen, um meine Gesundheit und meinen Stern.“ – „Herr“, erwiderte der Archidiakonus, „war das Euer Gedanke, so hättet Ihr besser getan, Euch auf den vielen Stufen meiner Treppe nicht außer Atem zu steigen. Ich glaube weder an die Medizin noch an die Astrologie.“
    „Wahrhaftig!“ rief der Gevatter überrascht aus. Coictier sagte leise mit gezwungenem Lächeln: „Seht Ihr nun, daß er verrückt ist?“
    „Woran glaubt Ihr denn?“ rief der Gevatter aus. Der Archidiakonus stand einen Augenblick unentschlossen da. Dann spielte ein düsteres Lächeln um seinen Mund, das seine Antwort der Lüge zu zeihen schien: „Credo in Deum.“ – „Dominum nostrum“, fügte der Gevatter hinzu, ein Kreuz schlagend. – „Amen“, sagte Coictier.
    „Ehrwürdiger Vater“, sprach der Gevatter, „ich bin tief entzückt, Euch so fromm zu sehen. So gelehrt Ihr aber auch seid, geht dies so weit, daß Ihr auch nicht an die Wissenschaft glaubt?“
    „Nein“, sprach der Archidiakonus; er ergriff den Arm des Gevatters und ein Blitz des Enthusiasmus entzündete sich in seinem matten Auge, „nein, die Wissenschaft leugne ich nicht. Nicht umsonst kroch ich durch die zahllosen Windungen der Höhle und grub meine Nägel in den Boden; am Ende der dunklen Galerie erblickte ich ein Licht, eine Flamme, ein Etwas; gewiß den Widerschein des blendenden Zentral-Laboratoriums, wo die Geduldigen und Weisen Gott überraschten.“ – „Kurz“, sagte Tourangeau, „etwas haltet Ihr für wahr und gewiß?“ – „Die Alchimie.“
    Coictier

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