Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Greis will ich nicht raten, die Grabeskammern der Pyramiden, von denen der alte Herodotus spricht, noch den Turm von Backsteinen in Babylon, noch das ungeheure Heiligtum des indischen Tempels von Eklinga aus weißem Marmor zu besuchen. Ich selbst schaute nie die chaldäischen Bauten in der heiligen Form des Sikra, noch Salomos zerstörten Tempel, noch die zerbrochenen steinernen Tore des Grabmals der Könige von Israel. Wir müssen uns mit den Fragmenten des Buches Hermes, das vor uns liegt, begnügen. Ich will Euch die Statue des heiligen Christoph, das Symbol des Sämanns, das der zwei Engel am Portal der heiligen Kapelle erklären, von denen der eine die Hand in ein Gefäß, der andere in eine Wolke taucht.“
Hier setzte sich Jacques Coictier, den die ungestümen Antworten des Archidiakonus bis dahin entwaffnet hatten, wie auf seinen Sattel und unterbrach ihn mit dem triumphierenden Tone eines Gelehrten, der einen andern zurechtweist: „Erras, amice Claudi. Das Symbol ist nicht die Zahl. Ihr haltet Orpheus für Hermes.“
„Ihr irrt“, erwiderte ernst der Archidiakonus, „Dädalus ist die Grundlage, Orpheus die Mauer, Hermes das Gebäude, das Ganze. – Kommt, wenn Ihr wollt“, fuhr er fort, sich zu Tourangeau wendend, „ich will Euch die Goldteilchen zeigen, die am Boden des Schmelztiegels von Nicolas Flamel zurückblieben, und Ihr mögt es dann mit dem Golde Guillaumes von Paris vergleichen. Ich will Euch die geheime Kraft des griechischen Worts Peristera* lehren. Vor allem aber laß ich Euch die marmornen Buchstaben des Alphabets, die Granitsäulen des Buches lesen. Wir gehen zum Portal des Bischofs Guillaume und zu dem von St. Jean-le-Rond in der heiligen Kapelle, dann zum Grabe Flamels. Ich will Euch die Hieroglyphen erläutern, womit die vier großen, eisernen Blöcke des Portals am Hospital St. Gervais in der Straße Ferronnerie bedeckt sind. Auch studieren wir zusammen die Fassaden St. Côme …“
* Die Taube.
Schon lange schien Tourangeau, so verständig auch sein Blick war, Dom Claude nicht mehr zu verstehen. Er unterbrach ihn: „Gottes Ostern! Was habt Ihr da für Bücher?“
„Dort steht eins“, sprach der Archidiakonus. Er öffnete das Fenster und zeigte auf die ungeheure Kirche Notre-Dame, die auf dem bestirnten Himmel den schwarzen Schattenriß der zwei Türme, der steinernen Seiten und des gigantischen Rückens hinzeichnete und als eine zweiköpfige, riesenhafte Sphinx, die in der Stadt ruhte, erschien. Der Archidiakonus betrachtete einige Zeit schweigend das gigantische Gebäude, dann streckte er seufzend den rechten Arm gegen ein gedrucktes Buch, das auf dem Tische lag, und den linken gegen Notre-Dame; sein Blick wandte sich traurig vom Buche zur Kirche, und er sprach: „Ach, diese Buchstaben werden die Steine töten!“
Coictier, der mit Eifer dem Buche genaht war, konnte nicht unterlassen auszurufen: „Nun liegt denn hierin soviel Furchtbares? Es ist: Glossa in epistolas D. Pauli. Norimbergae Antonius Koburger, 1474. Das ist nichts Neues; ein Buch des Petrus Lombardus, des Magister Sententiarum. Meint Ihr, weil es gedruckt ist?“
„Ihr sagt es“, erwiderte Claude. Er schien in tiefes Sinnen versunken, stand aufrecht und hielt den gekrümmten Zeigefinger auf den Folianten, den die berühmten Nürnberger Pressen geschaffen hatten. Dann fügte er die geheimnisvollen Worte hinzu: „Ach, ach! Kleine Dinge folgen auf große; ein Zahn besiegt eine Masse, das Ichneumon tötet das Krokodil, die Harpune den Walfisch, das Buch das Gebäude!“
Die Abendglocke des Klosters tönte in dem Augenblick, wo Coictier seinem Gefährten seinen ewigen Schlußreim wiederholte: „Er ist verrückt!“ Diesmal erwiderte jener: „Jetzt glaub ich’s auch.“
Zu dieser Stunde durfte kein Fremder im Kloster bleiben. Die beiden Fremden entfernten sich. – „Meister“, sprach der Gevatter Tourangeau beim Abschied zum Archidiakonus, „ich liebe die Gelehrten und die Männer von großem Geist; Euch aber achte ich vor allen. Kommt morgen zum Palais des Tournelles und fragt nach dem Abt von St. Martin-de-Tours.“
Der Archidiakonus trat erstaunt in seine Zelle zurück; denn jetzt erst merkte er, wer der Gevatter Tourangeau war, und erinnerte sich an das Archiv des Klosters St. Martin-de-Tours, wo es heißt: Abbas beati Martini, scilicet Rex Franciae, est canonicus de consuetudine et habet parvam praebendam, quam habet Sanctus Venantius, et debet sedere in sede thesaurarii.
Seitdem hatte, wie
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