Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
der Freiheit überfallen, entschlüpft dem Priester und fällt in die Gewalt des Künstlers. Der Künstler baut auf seine Weise, sagte dem Mysterium, dem Mythus, dem Gesetze Lebewohl; ihn beherrschte Einbildungskraft und Eigensinn. Der Priester mußte schweigen, sobald er seine Basilika, seinen Altar besaß. Das architektonische Buch gehörte nicht mehr dem Priestertum und Rom, sondern der Phantasie, der Dichtkunst, dem Volke. Daher stammen die zahllosen, schnellen Umgestaltungen der nur dreihundert Jahre alten Architektur, deren Geschmeidigkeit nach der starren Unbeweglichkeit der siebenhundert Jahre alten romanischen Baukunst so sehr in die Augen springt. Die Kunst wandelte mit Riesenschritten. Volksgeist und Eigentümlichkeit betreiben das frühere Geschäft der Bischöfe. Im Vorübergehen schreibt jedes Geschlecht seine Linie in diesem Buch. Es streicht die alten romanischen Hieroglyphen auf den Vorderseiten aus, und nur hin und wieder sieht man das alte Dogma unter dem neuen, dort niedergelegten Symbol durchblicken. Das Gewand des Volkes läßt kaum erraten, daß hier die Gebeine der Religion begraben liegen. Kaum kann man sich einen Begriff von der Freiheit machen, welche die Baumeister, selbst gegen die Kirche, sich damals nahmen. Kapitäle sind mit schamlos zusammengekuppelten Mönchen und Nonnen geschörkelt; Noahs Geschichte ist in jeglicher Art dargestellt; ein bacchischer Mönch mit Eselsohren und dem Glase in der Hand lacht der Gemeine ins Gesicht. Für den in Stein geschriebenen Gedanken gab es damals ein Privilegium, das unsrer jetzigen Preßfreiheit entspricht. Diese Freiheit ging sehr weit. Bisweilen zeigt ein Portal, eine Fassade, eine ganze Kirche einen dem Kultus durchaus fremden oder selbst feindlichen Sinn. Der Gedanke war nur in der Art frei; auch schrieb man ihn ganz auf die Bücher, die man Gebäude nannte. Hätte diese Form sich in ein Manuskript gewagt, so wäre sie durch Henkers Hand auf öffentlichem Markte verbrannt worden. Sie besaß nur diesen Weg, sich Bahn zu brechen, und stürzte sich von allen Seiten hinein. Daher stammt die ungeheure Menge der Kathedralen, womit Europa in so wunderbarer Zahl bedeckt ist, daß man kaum daran glaubt, selbst wenn man die Zahl geprüft hat. Alle materiellen und intellektuellen Kräfte der Gesellschaft trafen sich in demselben Punkte, in der Architektur. So entwickelte sich die Kunst unter dem Vorwande, Gott Kirchen zu bauen, in prächtigen Verhältnissen. Wer damals als Dichter geboren ward, ward ein Baumeister. Der in den Massen zerstreute Geist fand, durch die Feudalität wie unter einem Schutzdach von Schilden überall zusammengedrückt, nur einen Ausweg in der Architektur, warf sich auf die Kunst, und seine Ideale nahmen die Form der Kathedralen an. Alle andern Künste gehorchten ihr und unterwarfen sich ihrer Norm. Sie wurden Arbeiter am großen Werk. Der Architekt, der Dichter und Meister vereinte in sich die Skulptur, die seine Fassaden meißelte, die Malerei, die seine Fenster mit Farben schmückte, die Musik, die seine Glocken läutete und in seine Orgel hauchte. Selbst die eigentliche, arme Poesie, die in Manuskripten vegetierte, ward gezwungen, um etwas zu sein, sich in das Gebäude, unter der Form der Hymne oder Prosa einfassen zu lassen. Übrigens hatten ja auch das Äschylus Tragödien in den priesterlichen Festen Griechenlands, die Genesis in Salomos Tempel dieselbe Rolle gespielt.
So war bis auf Gutenberg die Architektur die allgemeine Hauptschrift. Das Mittelalter schrieb die letzte Seite dieses im Orient begonnenen, im griechischen und römischen Altertum fortgesetzten Granitbuches. Übrigens bildet sich dieses Phänomen einer Volksarchitektur nach einer Kastenarchitektur bei jeder gleichartigen Bewegung des menschlichen Geistes, in den Zeitabschnitten der Geschichte. Um nun hier im allgemeinen ein Gesetz auszusprechen, das in mehreren Bänden eines Buches genauer könnte entwickelt werden, folgte im hohen Orient, nach der Architektur der Hindus, die phönizische Baukunst, die reiche Mutter der arabischen; im Altertum, nach der ägyptischen, dessen etrurischer und Zyklopenstil nur eine Abart bilden, die griechische Architektur, als deren Verlängerung die römische mit dem karthagischen Dom nur eine Abart ist; in neuerer Zeit auf die romanische die gotische. Trennt man diese drei Reihen von ihren Geschwistern, so findet man in den drei ältesten jeder Reihe, der indischen, ägyptischen, romanischen, die Theokratie, Kaste, Einheit,
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