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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Wort ist, durch das doppelte Gesetz der Poesie und Geometrie in Bewegung gesetzt, sich ordnen, zusammenfügen, tief in der Erde wurzeln, hoch in die Wolken steigen, bis unter der Eingebung des Geistes einer Epoche jene wunderbaren Bücher geschrieben waren, die zugleich wunderbare Bauwerke sind: die Pagode von Eklinga, das Rhamseïon in Ägypten und Salomons Tempel.
    Die ursprüngliche Idee lag nicht allein im Wesen der Gebäude, sondern auch in der Form. Salomos Tempel war nicht allein die Hülle des heiligen Buches, sondern selbst das heilige Buch. Auf jeder konzentrischen Mauer konnten die Priester seine Worte übertragen und den Augen offenbart lesen, bis sie es im letzten Tabernakel unter der konkretesten Form des Rundbogens erschauten. So ward das Wort in den Bau geschlossen; allein sein Bild war auf der Hülle, wie die Menschengestalt auf dem Sarge der Mumie.
    Nicht allein die Form der Gebäude, sondern auch die Wahl ihrer Stelle enthüllte den dargestellten Gedanken. War das Symbol anmutig oder düster, krönte der Grieche seine Berge mit harmonischen Tempeln, höhlte der Inder die seinigen aus, um dort die mißgestalteten, unterirdischen Pagoden auszumeißeln, die durch gigantische Reihen von Elefanten getragen wurden. So war in den ersten sechstausend Jahren der Welt von der ältesten Pagode Hindostans bis zur Kölner Kathedrale die Baukunst eine Schrift des Menschengeschlechts. Und dies ist in dem Grade Wahrheit, daß nicht allein jedes religiöse Symbol, sondern auch jeder menschliche Gedanke Seite und Monument in diesem ungeheuren Buche besitzt. Jede Zivilisation beginnt mit Theokratie und endet mit Demokratie. Dies Gesetz der auf Einheit folgenden Freiheit ist in der Architektur niedergeschrieben. Man darf nicht wähnen, die Mauerkunst sei nur gewaltig im Erbauen eines Tempels, im Darstellen des Mythus und des priesterlichen Symbolismus, im Zeichnen der geheimnisvollen Gesetztestafeln durch Hieroglyphen auf steinernen Tafeln. Wäre dem so, so könnte die Architektur, wenn das heilige Symbol unter dem freien Gedanken verschwindet, den neuen Zustand des menschlichen Geistes nicht wiedergeben, ihre Blätter, auf der einen Seite beschrieben, wären leer auf der andern, ihr Werk verstümmelt, ihr Buch unvollständig. Doch dies ist nicht der Fall.
    Nehmen wir das Mittelalter als Beispiel; denn dieses erkennen wir genauer, weil es uns näher liegt. Während des ersten Abschnitts, als die Theokratie Europa organisierte, als der Vatikan aus den Elementen des zerbrochenen Roms ein neues erbaute, als das Christentum unter den Trümmern der früheren Zivilisation die Stufenleiter der Gesellschaft hervorsuchte und aus ihnen ein neues, hierarchisches Ganzes erschuf, dessen Priestertum zum Schlüssel des Gewölbes ward, hört man anfangs, wie die Reste gestorbener Architekturen im Chaos emporquellen, und schaut, wie sie dann allmählich beim Hauche des Christentums unter Barbarenhänden emporsteigen. Dies ist die geheimnisvolle romanische Baukunst, Schwester der Architekturen Indiens und Ägyptens, unwandelbares Symbol des reinen Katholizismus, unveränderliche Hieroglyphe der päpstlichen Einheit. Jeder Gedanke der Zeit ist in diesem düsteren romantischen Stile niedergeschrieben. Überall schaut man Einheit, Macht, Undurchdringlichkeit, Unumschränktheit, Gregor VII.; überall den Priester, die Kaste, nie den Menschen, das Volk. Da beginnen die Kreuzzüge, die eine große Volksbewegung entbindet, was auch ihr Ursprung sei, den Geist der Freiheit stets aus dem letzten Niederschlag. Neuheit bricht sich Bahn. Es eröffnet sich die stürmische Periode der Jacquerien und Liguen; die Gewalt wird erschüttert, die Einheit zerspalten. Der Feudalismus will mit der Theokratie teilen; das Volk wird unvermeidlich hinzuschreiten, die Rolle des Löwen zu spielen. Quia nominor leo.*

    * Lateinisch: Weil ich Löwe genannt werde.
    Der Adel durchbricht das Priestertum, die Gemeine den Adel. Europas Antlitz wird verändert und mit ihm das Antlitz der Baukunst. Gleich der Zivilisation schlägt sie die Seite um, und ein neuer Geist findet sie bereit, seine Eingebung aufzuzeichnen. Sie kehrte, wie die Völker mit der Freiheit, mit Spitzbögen aus den Kreuzzügen zurück. Während Rom allmählich sich zergliedert, stirbt die romanische Baukunst. Die Hieroglyphe verläßt die Kathedrale, Burgen zu schmücken und dem Feudaladel ein Blendwerk zu schaffen. Sogar die Kathedrale, dieser einst so dogmatische Bau, wird vom Volke, von der Gemeine,

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