Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
fragte Mahiette. – „Nun, die Schwester Gudule.“ – „Schwester Gudule, wer ist das?“ – „Man sieht, Ihr seid aus Reims“, antwortete Dudarde, „da Ihr dies nicht wißt. Das ist die Klausnerin im Rattenloch.“ – „Was, die arme Frau, der wir den Kuchen bringen?“
Dudarde nickte mit dem Kopfe. „Jawohl; Ihr sollt sie sogleich an der Luke sehen. Sie hat den nämlichen Abscheu vor den ägyptischen Vagabunden, die das Tamburin spielen und prophezeien, wie Ihr. Aber warum lauft Ihr denn schon bei ihrem bloßen Anblick davon?“
„Oh“, sagte Mahiette, indem sie den runden Kopf ihres Kindes in die Hände drückte; „ich will nicht dasselbe Unglück haben wie Paquette-la-Chantefleurie.“ – „Ei, erzählt uns die Geschichte, gute Mahiette“, sprach Gervaise, sie beim Arm fassend. – „Recht gern. Ja, ja, man sieht, daß Ihr aus Paris seid, da Ihr das nicht wißt. Ich sage euch also – doch brauchen wir stehen zu bleiben, um die Sache zu erzählen – daß Paquette-la-Chantefleurie ein hübsches Mädchen von achtzehn Jahren war, als ich auch so alt war, das heißt vor achtzehn Jahren und es ist ihre eigene Schuld, wenn sie jetzt nicht, so wie ich es bin, eine dicke, frische Mutter von sechsunddreißig Jahren mit einem Mann und einem Jungen ist. – Also, sie war die Tochter von Guybertant, Ministrel der Schiffe zu Reims, desselben, der vor König Karl VII. bei der Krönung aufspielte, als dieser die Vesle hinabfuhr, und als die Frau Jungfrau mit in dem Schiffe war. Der alte Vater starb, als Paquette noch ganz klein war; sie hatte also nur noch ihre Mutter, von der aber Paquette nichts lernte als spielen und sticken, wobei die Kleine groß ward und sehr arm blieb. Beide wohnten in Reims am Flusse, Straße Folle-Peine. Merkt euch das! Ich glaube, die brachte Paquette ins Unglück. 61, im Jahre der Krönung unseres Königs Ludwig VI., den Gott erhalte, war Paquette so lustig, daß sie überall Chantefleurie* hieß – das arme Mädchen! – Sie hatte so schöne Zähne und lachte gern, sie zu zeigen. Mädchen, die gern lachen, kommen dadurch zum Weinen; schöne Zähne verderben schöne Augen; das war also die Chantefleurie. Sie und ihre Mutter hatten knapp zu leben; nach dem Tode des Ministrels waren sie sehr heruntergekommen; ihr Sticken brachte ihnen kaum sechs Deniers wöchentlich ein, und das macht noch keine zwei Liards. Eines Winters – es war in demselben Jahre 61 – als beide Frauen weder Holz noch Reisig besaßen und es sehr kalt war, gab dies der Chantefleurie so schöne Farbe, daß die Männer sie Paquette** nannten, und mehrere riefen Paquerette***, und daß sie sich zugrunde richtete – Eustache! Sehe ich dich noch einmal in den Kuchen beißen! – Eines Morgens sahen wir alle, daß sie verloren war; denn sie kam in die Kirche mit einem goldenen Kreuz am Halse. Denkt euch, mit vierzehn Jahren! Zuerst hatte sie den jungen Vicomte von Cormontreuil, dessen Turm drei Viertelstunden von Reims liegt, zum Liebhaber, dann Herrn Henri de Triancourt, Bereiter des Königs, dann Chiart de Beaulion, Waffensergeanten, und so immer mehr abwärts, bis zum Laternenputzer. Ach, die arme Chantefleurie! Sie gehörte allen und hatte den letzten Heller ihres Goldstücks ausgegeben.“
* Blütensängerin.
** Marienblümchen.
*** Maßliebchen.
Mahiette wischte sich eine Träne aus den Augen. „Das ist eine ganz gewöhnliche Geschichte“, sagte Gervaise, „ich sehe weder Zigeuner noch Kinder.“
„Geduld!“ begann Mahiette aufs neue, „ein Kind sollt Ihr gleich haben. 66, vor sechzehn Jahren, gebar Paquette ein kleines Mädchen, worüber sie sich sehr freute. Die Arme! Schon lange hatte sie sich ein Kind gewünscht. Ihre Mutter, die gute Frau, war gestorben. Paquette hatte niemanden mehr in der Welt, den sie liebte und von dem sie geliebt ward. Das arme Geschöpf! Sie stand allein, man zeigte mit den Fingern auf sie, schrie in den Straßen hinter ihr her; von den Straßenjungen verspottet, ward sie von den Sergeanten geprügelt. Auch war sie schon zwanzig Jahre alt, und Freudenmädchen sind mit zwanzig Jahren schon alte Weiber. Die Liebe brachte ihr nicht mehr ein, als das Sticken vorher; der Winter war hart, das Holz in ihrem Schober und das Brot in ihrem Schranke selten. Arbeiten konnte sie nicht mehr, denn wollüstig, ward sie faul, und faul, ward sie wollüstig. – So erklärt unser Herr Pfarrer den Umstand, daß diese Weiber, wenn sie alt sind, mehr Hunger und Kälte leiden als andre
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