Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
hatte einen Kaiser, die andere einen Papst oder Kapitän. Die arme Chantefleurie ward auch von Neugier angesteckt; sie wollte wissen, was sie hatte, und ob die kleine Agnes einst Kaiserin von Armenien oder sonst was werden könnte. Sie trug ihr Kind zu den Zigeunern, und die bewunderten, liebkosten, küßten es mit ihren schwarzen Mäulern und staunten, ach! zur großen Freude der Mutter, über seine kleine Hand. Hauptsächlich priesen sie die kleinen Füße und schönen Schuhe. Das Kind war noch kein Jahr alt. Es fürchtete sich vor den Zigeunern und weinte. Aber die Mutter küßte es noch mehr und ging, ganz entzückt über das Glück, das die Hexen ihrer Agnes prophezeit hatten. Sie sollte schön, tugendhaft, Königin werden. Sie ging ganz stolz in ihre Dachstube und dachte, eine Königin dort hinzutragen. Am nächsten Tage benutzte sie einen Augenblick, wo das Kind in ihrem Bette schlief (denn sie schliefen beide zusammen), ließ die Tür halb offen und wollte einer Nachbarin erzählen, ihre Tochter werde einst vom Könige von England, dem Erzherzog von Äthiopien und was weiß ich sonst, bei Tafel bedient werden. Und als sie wiederkam und, die Treppe hinaufsteigend, kein Schreien hörte, dachte sie, das Kind schliefe. Da stand aber die Tür speerweit offen, die arme Mutter trat ein, lief zum Bett – das Kind war nicht mehr da, sein Platz war leer. Nur ein hübscher Schuh war zurückgelassen. Sie stürzte aus dem Zimmer die Treppe hinunter, rannte mit dem Kopf gegen die Wand und schrie: ‚Mein Kind! Wer hat mein Kind gestohlen?‘ – Die Straße war einsam; das Haus lag vereinzelt. Niemand konnte es ihr sagen. Sie lief durch die Stadt, durchsuchte alle Straßen, lief den ganzen Tag wütend, wahnsinnig umher, sah in Türen und Fenster wie ein wildes Tier, das seine Jungen verlor. Sie rannte keuchend, mit zerzausten Haaren, furchtbar anzusehen, umher. In ihren Augen trocknete ein Feuer ihre Tränen; sie hielt die Vorübergehenden an und schrie: ‚Meine Tochter! Meine Tochter! Wer gibt mit meine Tochter wieder? Ich will Eure Magd, Eures Hundes Magd sein, Ihr mögt mein Herz essen, wenn Ihr mein Leben wollt; nur gebt mir meine Tochter!‘ – Sie begegnete dem Herrn Pfarrer von St. Remy und rief: ‚Herr Pfarrer, ich will Euer Land mit den Nägeln graben, aber gebt mir meine Tochter!‘ – Dudarde, das war herzzerreißend; ich sah, wie ein harter Mann, der Prokurator Ponce Lacabre, darüber weinte. – Ach, die arme Mutter! – Am Abend kehrte sie heim. Während sie abwesend war, hatte eine Nachbarin gesehen, wie zwei vermummte Zigeunerinnen, mit einem Bündel auf dem Arm die Treppe hinaufstiegen, die Tür schlossen und davonliefen. Als Paquette so herumlief, hörte man Kindergeschrei. Die Mutter lachte auf, stieg die Treppe hinan, als hätte sie Flügel, stieß die Tür auf: – Dudarde, wie scheußlich! Anstatt der schönen, rotwangigen, frischen Agnes, die ein Geschenk Gottes war, sah sie einen scheußlichen, hinkenden, buckligen Wechselbalg, der auf dem Boden kreischend herumkroch. Schaudernd legte sie die Hand über die Augen. ‚Oh‘, rief sie, ‚haben die Hexen mein Kind in dies furchtbare Tier verwandelt?‘ Man trug den Wechselbalg schnell fort; denn sie wäre über ihn verrückt geworden. Das war ein Ungeheuer von Kind, das der Teufel mit einer Zigeunerin erzeugt hatte. Es schien ungefähr vier Jahre alt zu sein, und sprach eine Sprache, wie kein Menschenkind, Worte, die unmöglich sind. – Die Chantefleurie fiel über den kleinen Schuh her, das einzige, das ihr von ihrer geliebten Tochter geblieben war. Lange Zeit lag sie stumm, unbeweglich, ohne zu atmen, da; man glaubte, sie sei tot. Da zitterte sie auf einmal am ganzen Leibe, bedeckte ihre Reliquie mit wütenden Küssen und brach in Schluchzen aus, als wollte ihr Herz zerspringen. Ja, ja, wir weinten alle. Sie rief: ‚Oh meine kleine schöne Tochter, wo bist du?‘ und das zerschnitt euch die Eingeweide. Seht Ihr, unsere Kinder sind das Mark unserer Knochen. – Oh Eustache, verlöre ich dich! – Da stand die Chantefleurie plötzlich auf, lief durch Reims und schrie: ‚Ins Lager der Zigeuner. Sergeanten herbei! Verbrennt die Hexen!‘ – Aber die Zigeuner waren fort. Es war stockfinster, und man konnte sie nicht verfolgen. Am nächsten Tage fand man zwei Stunden von Reims auf einer Heide die Überbleibsel eines Feuers, Bänder von Paquettes Kinde, Blutstropfen und Kot von Ziegenböcken. Es war gerade eine Samstagnacht gewesen, und man
Weitere Kostenlose Bücher