Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Zigeunerin“, sprach Fleur-de-Lys, indem sie sich nachlässig auf dem Platz hinwandte.
„Kommt! Kommt!“ riefen ihre lebhaften Gefährtinnen und liefen sämtlich an den Rand des Balkons, während Fleur-de-Lys, nachsinnend über die Kälte ihres Verlobten, langsam folgte, und während der Hauptmann, erleichtert durch diesen Zufall, der ein ihm lästiges Gespräch abschnitt, in den Hintergrund des Zimmers zurückkehrte und zufrieden aussah wie ein Soldat, der sich freut, von seinem Dienst abgelöst zu werden. Aber er versah einen artigen und angenehmen Dienst bei der schönen Fleur-de-Lys, und so hatte es ihm auch früher geschienen. Allmählich ward er aber abgestumpft, und die Aussicht auf eine nahe Heirat machte ihn täglich kälter. Übrigens war er auch unbeständiger Laune, und weil wir die Wahrheit berichten, müssen wir auch gestehen, daß er einen etwas gewöhnlichen Geschmack besaß. Ob auch von sehr edler Geburt, hatte er unter dem Harnisch manche Gewohnheit alter Soldaten angenommen. Die Trinkstube, und was dazu gehört, liebte er sehr. Er fand seine Behaglichkeit nur unter Zoten, militärischen Galanterien, gefälligen Schönheiten und leichten Erfolgen. Von seiner Erziehung hatte er zwar noch einiges beibehalten; allein er hatte zu jung das Land durchstreift, hatte zu jung in Garnisonen gelegen, und täglich erlosch immer mehr der Firnis des Edelmanns unter dem Wehrgehenk des Gendarmen. Ob er auch Fleur-de-Lys wegen eines Restes von Achtung noch von Zeit zu Zeit besuchte, fühlte er bei ihr doppelten Zwang; erstens weil er sehr wenig Liebe für sie übrig hatte, da er diese in Orten jeglicher Art früher zerstreute; zweitens weil er, mitten unter so vielen steifen, geschnürten und sehr anständigen Damen unaufhörlich zitterte, sein an Flüche gewöhnter Mund möchte plötzlich das Gebiß zwischen die Zähne nehmen und mit Zechredensarten durchgehen. Übrigens mischte sich alles dies bei ihm mit großem Anspruch auf Eleganz, gutes Aussehen und schönen Anzug.
Er stand also nachdenklich oder auch gedankenlos am Kamin und stützte sich auf das Gesims, als Fleur-de-Lys, sich plötzlich umwendend, ihn anredete. Das arme Mädchen schmollte nur mit widerstrebendem Herzen.
„Schöner Vetter, spracht Ihr nicht von einer Zigeunerin, die Ihr vor zwei Monaten aus den Händen von einem Dutzend Räubern rettetet?“ – „Ja, ich glaube, schöne Kusine.“ – „Nun, vielleicht ist es die Zigeunerin, die dort auf dem Platze tanzt. Kommt, ob Ihr sie erkennt, schöner Vetter.“
Diese sanfte Einladung, zu ihr zu kommen, die sie an ihn richtete, verbarg den geheimen Wunsch, sich mit ihm wieder zu versöhnen. Der Hauptmann Phoebus de Chateaupers (denn dieser steht seit Anfang des Kapitels dem Leser vor Augen) ging langsam auf den Balkon zu. – „Seht“, sagte Fleur-de-Lys und legte ihre Hand zärtlich auf den Arm des Hauptmanns, „die Kleine, die dort tanzt. Ist das Eure Zigeunerin?“
Phoebus sah hin und sagte: „Ja, ich glaube, ich erkenne die Ziege.“ – „Oh, die kleine schöne Ziege!“ sprach Amelotte und faltete aus Bewunderung die Hände. „Sind ihre Hörner wirklich von Gold?“ fragte Bérangère. Dame Aloise nahm das Wort, ohne sich auf ihrem Sessel zu rühren: „Es ist wohl eine von den Zigeunerinnen, die vergangenes Jahr durch das Tor Gibard einzogen?“ – „Frau Mutter“, sagte sanft Fleur-de-Lys, „das Tor heißt jetzt das Höllen-Tor.“
Fleur-de-Lys wußte, wieviel Anstoß der Hauptmann an veralteter Ausdrucksweise nahm; auch fing dieser schon wirklich an zu grinsen und brummte zwischen den Zähnen: „Tor Gibard! Tor Gibard! Das heißt ja, König Karl VI. einziehen lassen!“
„Pate“, rief Bérangère, deren unaufhörlich sich bewegende Augen plötzlich auf die Turmspitze von Notre-Dame blickten, „wer ist der schwarze Mann dort oben?“
Alle jungen Mädchen erhoben die Augen. Ein Mann hatte sich wirklich über die höchste Balustrade des nördlichen Turmes gelehnt. Es war ein Priester. Seinen Anzug konnte man deutlich erkennen; auch sah man sein auf beide Hände gestütztes Gesicht. Übrigens rührte er sich nicht und stand da wie eine Bildsäule. Sein starrer Blick richtete sich auf den Platz. Er war unbeweglich wie ein Geier, der ein Sperlingsnest entdeckt hat.
„Das ist der Herr Archidiakonus“, sprach Fleur-de-Lys. – „Erkennt Ihr ihn von hier aus, müßt Ihr gute Augen haben“, meinte Gaillefontaine. – „Wie er die kleine Tänzerin betrachtet“, sprach
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