Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Vollkommenheit aufmerksam zu machen, womit Fleur-de-Lys die Nadel führte oder ihr Knäuel abwickelte. „Seht doch, kleiner Vetter“, sagte sie ihm ins Ohr, ihn am Ärmel zupfend, „sie bückt sich!“ – „Ja“, antwortete der junge Mann, und verfiel wieder in sein kaltes Schweigen. Nach einem Augenblick mußte er sich aufs neue zu ihr neigen, denn Dame Aloise sprach: „Saht Ihr jemals eine schönere und anmutigere Gestalt als Eure Braut? Gibt es ein weißeres oder blonderes Mädchen? Sind das nicht vollkommene Hände? Zeigt der Hals nicht alle Formen des Schwanes? Wie beneide ich Euch bisweilen! Wie glücklich seid Ihr, trotz Eures Mutwillens! Nicht wahr, Fleur-de-Lys ist anbetungswürdig, und Ihr seid in sie verliebt?“
„Gewiß“, erwiderte er, indem er an etwas anderes dachte. „Aber sprecht doch mit ihr“, sagte plötzlich Madame Aloise, ihn an der Schulter rüttelnd; „ihr seid ja so blöde geworden.“
Blödigkeit war nun weder eine Tugend, noch ein Fehler des Hauptmanns. Er machte einen Versuch, jenes Verlangen zu erfüllen. „Schöne Kusine“, sprach er, an Fleur-de-Lys herantretend, „was ist das für eine Stickerei?“ – „Schöner Vetter“, erwiderte Fleur-de-Lys in ärgerlichem Tone, „ich sagte es Euch schon dreimal, das ist des Neptuns Grotte.“ Offenbar durchschaute Fleur-de-Lys den Grund des kalten, zerstreuten Benehmens des Hauptmanns deutlicher als ihre Mutter. Der Hauptmann fühlte die Notwendigkeit, etwas zu sagen.
„Für wen ist die Neptunerie bestimmt?“ – „Für die Abtei St. Antoine-des-Champs“, sprach Fleur-de-Lys, ohne die Augen aufzuschlagen. Der Hauptmann nahm einen Zipfel der Stickerei in die Hand: „Wer ist der dicke Gendarm, Kusine, der mit vollen Backen in die Trompete bläst?“ – „Triton, Vetter.“
In der Betonung der kurzen Worte der Fleur-de-Lys lag etwas Schmollendes. Der junge Mann sah ein, daß er eine Abgeschmacktheit, eine Galanterie, kurz irgend etwas ihr ins Ohr sagen mußte. Er bückte sich, konnte aber in seiner Einbildungskraft nichts Zärtlicheres und Zutraulicheres finden, als: „Warum trägt Eure Mutter denn immer einen Wappenrock nach Art unserer Großmütter zu Karls VII. Zeiten? Sagt ihr doch, schöne Kusine, daß dies jetzt nicht mehr elegant ist, und daß die gestickte Türangel mit dem Lorbeerzweig auf ihrem Rock ihr das Ansehen einer umherwandelnden Kamindecke gibt. Wahrhaftig, so setzt man sich nicht mehr auf sein Wappen; ich schwör’ es Euch.“
Fleur-de-Lys erhob ihre schönen Augen mit dem Ausdruck des Vorwurfs und sprach leise: „Weiter schwört Ihr mir nichts?“ Die gute Dame Aloise aber, entzückt, daß beide sich so übereinanderbeugten und flüsterten, sprach, mit den Schnallen ihres Gebetbuches spielend: „Wie rührend, welche rührende Liebe!“
Der Hauptmann, der immer größeren Zwang empfand, kam wieder auf die Stickerei: „Wahrhaftig, eine schöne Arbeit!“ rief er aus. Bei dieser Gelegenheit wagte Colombe de Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine mit weißer Haut, die bis über den Hals in blauem Damast gehüllt war, eine blöde Frage, die sie an Fleur-de-Lys in der Hoffnung richtete, der Hauptmann werde antworten: „Liebe Gondelaurier, saht Ihr schon die Tapeten im Hotel de la Roche-Guyon?“
„Nicht wahr, das ist das Hotel mit dem Garten des Louvre?“ fragte lachend Diane de Christeuil; denn sie hatte schöne Zähne und lachte folglich bei jedem Satz. – „Wo der dicke alte Turm aus der alten Stadtmauer von Paris steht?“ fügte Amelotte de Montmichel hinzu, eine hübsche, lockige frische Brünette, die, ohne zu wissen warum, wie die andere lachte, zu seufzen pflegte. – „Liebe Colombe“, sagte Dame Aloise, „wollt Ihr nicht von dem Hotel des Herrn von Bacqueville unter der Regierung Karls VI. sprechen? Da sind wirklich schöne Haute-lisse-Tapeten.“ – „Karl VI.!“ brummte der junge Hauptmann und zog seinen Schnurrbart in die Höhe. „Gott! Die gute Dame spricht von alten Geschichten!“ – Dame Gondelaurier fuhr fort: „Wirklich, schöne Tapeten! So kostbare Arbeit, daß sie für ganz einzig gilt!“
In dem Augenblick rief Bérangère de Champchevrier, ein schlankes, kleines Mädchen von sieben Jahren, die durch das Geländer des Balkons auf den Platz schaute: „Oh, schöne Patin, Fleur-de-Lys, seht die hübsche Tänzerin dort auf dem Pflaster, die mitten unter den Bürgern das Tambourin spielt.“
Man vernahm den hellen Ton der baskischen Trommel. „Das ist eine
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