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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Aufregung immer bei ihm trocken lag, denn er leitete ihn täglich durch neue Rinnen ab, konnte er keine Ahnung von dem wütenden Meer menschlicher Leidenschaften haben, wie es braust und kocht, wenn man jeglichen Ausfluß ihm abschnitt, wie es rauscht, schwillt, das Herz zerreißt, bis es die Deiche zertrümmert und sich ein Bett gräbt.
    Jehan hatte sich stets durch die strenge, eisige Hülle, durch die verschanzte und unzugängliche Oberfläche der Tugend, wie sie sein Bruder zeigte, täuschen lassen. Der heitere Student hatte nie geahnt, daß der schneeige Gipfel des Ätna wütende, tiefe und kochende Lava birgt. So leichten Sinnes er aber auch war, sah er dennoch sehr wohl ein, daß er etwas gesehen habe, was er nicht hätte sehen dürfen, und Claude dürfe nicht wissen, wie er seine Seele bis in die geheimsten Falten beobachtet habe. Als er daher sah, wie der Archidiakonus in seine frühere Unbeweglichkeit zurücksank, zog er leise den Kopf zurück und ließ vor der Tür den Lärm seiner Schritte hören. Es klang, als ob soeben erst jemand gekommen wäre.
    „Herein!“ rief der Archidiakonus vom Inneren seiner Zelle; „Euch erwartete ich. Ich ließ deshalb den Schlüssel in der Tür. Herein, Meister Jacques!“
    Keck trat der Student herein. Der Archidiakonus, dem der Besuch an jenem Ort sehr ungelegen kam, zitterte auf seinem Stuhl.
    „Wie, Jehan, Ihr seid’s?“ – „Jawohl“, sagte Jehan mit keckem, rotem, heiterem Gesicht.
    Das Antlitz Dom Claudes zeigte einen strengen Ausdruck. – „Was wollt Ihr hier?“
    „Bruder“, sagte der Student, und bemühte sich, eine anständige, bescheidene und demütige Miene anzunehmen, wobei er mit dem Ausdruck der Unschuld seine Mütze spielend in der Hand hielt, „ich wollte Euch bitten …“ – „Um was?“ – „Um ein wenig Moral, deren ich sehr bedarf.“
    Jehan wagte noch nicht, laut hinzuzufügen: „Und um ein wenig Geld, dessen ich noch mehr bedarf.“ Diese letzte Phrase ward noch nicht ausgesprochen.
    „Junger Herr“, sagte der Archidiakonus kalt, „ich bin sehr unzufrieden mit Euch.“ – „Ach!“ seufzte Jehan.
    Dom Claude rückte seinen Stuhl um einen Viertelkreis und sah Jehan starr ins Auge. „Es ist mir sehr unangenehm, Euch zu sehen.“
    Der Anfang war furchtbar. Jehan machte sich auf einen harten Schlag gefaßt.
    „Jehan! Täglich höre ich Klagen über Euch. Gabt Ihr nicht neulich dem kleinen Vicomte de Ramonchamp die Bastonnade?“ – „Oh, was Rechtes! Der boshafte Page fand Vergnügen daran, die Studenten mit Schmutz zu bespritzen, indem er mit seinem Pferde im Straßenkot galoppierte.“ – „Dann habt Ihr den Rock des Mahiet Fargel zerrissen. Tunicam dechiraverunt, heißt es in der Klage.“ – „Oh, ein schlechtes Mäntelchen.“ – „In der Klage steht Tunicam und nicht Cappettam. Versteht Ihr Latein?“
    Jehan erwiderte nichts. – „Ja“, fuhr der Priester fort und schüttelte den Kopf; „so steht es jetzt mit den Wissenschaften! Latein wird kaum verstanden; Syrisch ist unbekannt und Griechisch so verhaßt, daß die Gelehrten sich ihrer Unwissenheit nicht schämen, und wenn sie ein griechisches Wort finden, es mit den Worten überspringen: Graecum est, non legitur.“
    Der Student schlug keck die Augen auf. „Bruder, soll ich Euch in gutes Französisch das Wort übersetzen, das dort auf der Mauer steht?“ – „Welches?“ – „ Anagch“
    Eine leichte Röte flog über die gelben Wangen des Archidiakonus, gleich einer Rauchsäule, die nach außen geheime Glut eines Vulkans andeutet. Der Student aber bemerkte dies nicht.
    „Nun, Jehan“, stammelte der ältere Bruder, „was heißt es?“ – „Verhängnis.“
    Dom Claude erblaßte, unbekümmert fuhr der Student fort: „Das Wort, welches dort von derselben Hand geschrieben steht, anageia, bedeutet Unkeuschheit. Ihr seht, ich kann Griechisch.“
    Der Archidiakonus schwieg. Die Übersetzung aus dem Griechischen versenkte ihn in tiefes Sinnen. Der kleine Jehan, welcher alle Schlauheiten eines verzogenen Kindes besaß, hielt den Augenblick für günstig, seine Bitte zu wagen. Seine Stimme war außerordentlich sanft, und er begann: „Guter Bruder, wie könnt Ihr bis zu so böser Miene mir über einige Prügel und Faustschläge zürnen, die ich im offenen Kriege einigen Knaben und Fratzen austeilte: Quibusdam marmosetis. Ihr seht, ich verstehe Latein.“
    Allein, diese liebkosende Heuchelei äußerte diesmal bei dem strengen älteren Bruder nicht die gewohnte

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