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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Wirkung. Zerberus biß nicht so leicht in den Honigkuchen. Die Stirn des Archidiakonus verlor keine einzige ihrer Runzeln. „Wo wollt Ihr hinaus?“ fragte er in trockenem Tone.
    „Ja“, antwortete Jehan mutig, „ich habe Geld nötig.“
    Bei dieser dreisten Erklärung nahm das Gesicht des Archidiakonus plötzlich den Ausdruck eines Vaters und Erziehers an: „Ihr wißt, Jehan, unser Lehen Tirechappe trägt mit der Miete von einundzwanzig Häusern nur neunundreißig Livres elf Sous sechs Heller ein. Das ist nur etwas mehr als die Hälfte unseres früheren Einkommens.“ – „Ich brauche Geld“, sprach Jehan, unerschütterlich wie ein Stoiker. – „Ihr wißt, es ist vom Gerichte entschieden, daß die einundzwanzig Häuser vom Bischofe als Lehen gegeben werden, und daß wir diese Last nur mit zwei Mark Silber ablösen können. Ich konnte sie noch nicht aufbringen, Ihr wißt das doch?“ – „Ich weiß, daß ich Geld brauche“, sagte Jehan zum drittenmal. – „Was wollt Ihr damit anfangen?“
    Ein Schimmer von Hoffnung strahlte bei diesen Worten in Jehans Augen. Er nahm seine schmeichelnd sanfte Miene wieder an: „Seht, lieber Bruder, in böser Absicht hätte ich mich nicht an Euch gewandt. Ich will ja nicht in den Schenken mit Euren Gold-Unzen den Großen spielen, auch nicht mit einer Brokatdecke mit meinem Lakaien in den Straßen herumreiten. Nein, Bruder, ich brauche Geld zu einem Werke der Barmherzigkeit.“ – „Wozu?“ fragte Claude ein wenig überrascht. – „Wir wollen dem Kinde einer armen Witwe und Wäscherin Wickelzeug schenken. Das kostet drei Gulden, und ich möchte auch einen hinzufügen.“ – „Wie heißen Eure Freunde?“ – „Peter Prügler und Baptist Spieler.“ – „So? Das sind zwei Namen, die für den Hochaltar sich eignen.“
    Gewiß hatte Jehan die Namen beider Freunde sehr unpassend gewählt. Er fühlte dies aber erst, als es zu spät war.
    „Und dann“, fuhr der weise Claude fort, „welches Wickelzeug kostet drei Gulden, und zwar für ein Kind einer Wäscherin? Seit wann endlich brauchen die Wäscherinnen Wickelzeug für ihre Kinder?“
    Jehan versuchte noch einmal sein Heil. – „Nun, ich brauche Geld, um heute abend Isabeau-la-Thierrye im Val-d’Amour zu besuchen.“ – „Unreiner Sünder!“ – „’Anagneia!“
    Dieses Zitat, das der Student wohl boshafterweise der Mauer entlehnte, äußerte auf seinen Bruder eine eigentümliche Wirkung. Er biß sich in die Lippen, und sein Zorn erlosch unter Schamröte.
    „Seht“, sagte er zu Jehan, „ich erwarte jemanden.“ – Der Student machte einen letzten Versuch: „Bruder Claude, gebt mir einen kleinen Parisis zum Essen.“ – „Wie weit seid Ihr in Gratians Dekretalien gekommen?“ – „Ich habe meine Hefte verloren.“ – „Wie weit seid Ihr im Durchlesen lateinischer Schriftsteller?“ – „Man hat mir meinen Horaz gestohlen.“ – „Wie weit seid Ihr im Aristoteles?“ – „Meiner Treu! Bruder, wie heißt doch der Kirchenvater, der da sagt, alle Ketzerei stamme aus Aristoteles’ Metaphysik? Ich will meine Religion an seiner Metaphysik nicht verderben.“ – „Junger Mann, beim letzten Einzuge des Königs war ein Edelmann in seinem Gefolge, der trug seine Devise auf der Pferdedecke gestickt: Qui non laborat, non manducet*, und heißt Phillippe Comines. Ich rate Euch, darüber nachzudenken.“

    *Lateinisch: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen!
    Der Student schwieg einen Augenblick, legte den Finger aufs Ohr, heftete die Augen zu Boden und schnitt ein verdrießliches Gesicht. Dann drehte er sich plötzlich gegen seinen Bruder, so schnell und lebhaft wie eine Bachstelze.
    „So, guter Bruder, Ihr wollt mir nicht einmal einen Sou geben, Brotkrusten bei einem Bäcker zu kaufen?“ – „Qui non laborat, non manducet!“
    Bei dieser Antwort des unerbittlichen Archidiakonus barg Jehan das Haupt in die Hände, wie eine schluchzende Frau und rief mit dem Ausdruck der Verzweiflung: „’Ototoi!“
    „Was soll das?“ fragte Claude, erstaunt über die Albernheit. – „Oh Bruder“, rief der Student und erhob seine kecken Augen, die er so sehr mit der Faust gedrückt hatte, daß sie in Tränen schwammen, „das ist griechisch! Ein Anapäst des Äschylus, der den Schmerz vollkommen ausdrückt.“ Und dann brach er in ein so lautes und possierliches Gelächter aus, daß der Archidiakonus lächeln mußte. Es war in der Tat Claudes eigene Schuld; warum hatte er seinen Bruder verzogen?
    Jehan ward

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