Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
kühner durch dies Lächeln: „Oh, sieh doch, guter Bruder, meine abgelaufenen Stiefel. War je ein Kothurn tragischer als solch ein Stiefel, dessen Sohle die Zunge ausstreckt?“
Der Archidiakonus blickte wieder so streng wie früher: „Neue Stiefel sollst du haben, aber kein Geld!“
„Oh, nur einen armen kleinen Sou, Bruder!“ fuhr Jehan bittend fort. „Gratian will ich auswendig lernen und ein wahrer Pythagoras in Tugend und Gelehrsamkeit werden. Aber bitte! Einen kleinen Sou! Wollt Ihr, daß mich der Hunger mit seinem Rachen beißt, den er dicht vor mir aufreißt, tiefer als der Tartarus und stinkender als die Nase eines Mönchs?“
Dom Claude erhob sein gerunzeltes Haupt: „Qui non laborat …“
Jehan aber ließ ihn nicht aussprechen. „Zum Teufel!“ rief er aus. „Es lebe die Freude! Ich gehe in Schenken, prügle mich, zerbreche Flaschen und besuche Mädchen!“ Dann warf er seine Mütze an die Mauer, klatschte mit den Fingern wie mit Kastagnetten. Der Archidiakonus betrachtete ihn mit düsterem Blick. – „Jehan, du hast keine Seele.“ – „Dann fehlt mir etwas, das, nach Epikur, aus irgend etwas ohne Namen besteht.“ – „Jehan, du mußt ernstlich daran denken, dich zu bessern.“ – „Ah so!“ sagte der Student, der abwechselnd seinen Bruder und die Retorten ansah, „hier ist alles gehörnt, Ideen und Bouteillen.“ – „Jehan, du wandelst auf schlüpfrigem Pfade. Weißt du, wohin er führt?“ – „In die Schenke.“ – „Die Schenke führt zum Schandpfahl.“ – „Der Schandpfahl ist eine Laterne; vielleicht hätte Diogenes an der Laterne seinen Menschen gefunden.“ – „Der Schandpfahl führt zum Galgen.“ – „Der Galgen ist ein Schwebebalken mit einem Menschen am einen Ende, und der ganzen Erde als Stützpunkt am andern. Es ist schön, Mensch zu sein.“ – „Der Galgen führt zur Hölle.“ – „Die ist ein lustig Feuer.“ – „Jehan, Jehan, dein Ende wird schlimm sein.“ – „Dann war der Anfang gut.“
In dem Augenblick hörte man Schritte auf der Treppe. „Schweig“, sprach der Archidiakonus und legte den Finger auf den Mund. „Meister Jacques kommt. Höre, Jehan“, fügte er leise hinzu, „hüte dich jemals von dem zu sprechen was du hier hörst. Birg dich hinter dem Ofen und atme leise.“
Der Student duckte sich hinter dem Ofen. Da faßte er einen einträglichen Gedanken. – „Bruder Claude, einen Gulden, daß ich leise atme.“ – „Still! Ich will ihn geben.“ – „Du mußt ihn gleich geben.“ – „Nimm“, rief der Archidiakonus und warf ihm zornig seinen Geldbeutel hin. Jehan duckte sich unter den Ofen und atmete ganz leise.
28. Die beiden Schwarzröcke
Die Person, die eintrat, war schwarz gekleidet und sah sehr finster aus. Beim ersten Blick fiel unserem Freund Jehan (der, wie man leicht sich denken kann, eine Stellung eingenommen hatte, in der er alles sehen und hören konnte) die vollkommene Düsterkeit der Kleider und der Züge des neuen Ankömmlings auf. Eine gewisse Sanftmut lag dennoch um seinen Mund; es war aber eine Katzen- und Richtersanftmut, eine süßliche Sanftmut. Er war grau, gerunzelt, beinah sechzig Jahre alt, blinzelte mit den Augen, hatte weiße Brauen, hängende Lippen und grobe Hände. Als Jehan ihn erblickte und sogleich schloß, er müsse Arzt oder Magistratsperson sein, als er bemerkte, seine Nase rage hoch über den Mund hervor und gebe ein Zeichen seiner Dummheit, kauerte er sich nieder, und war schon in Verzweiflung, daß er eine unendliche Zeit in so beschwerlicher Stellung und langweiliger Gesellschaft zubringen müsse. Der Archidiakonus war, als die Person hereintrat nicht einmal aufgestanden. Er gab ihr ein Zeichen, sich auf einen Schemel an der Tür zu setzen, und nach einigem Schweigen, das Überlegung andeutete, sagte er mit einer Protektormiene: „Guten Tag, Meister Jacques!“
„Gruß und Heil, Meister“, erwiderte der schwarzgekleidete Mann.
Durch die Art, wie ,Meister Jacques‘ und ,Meister‘ ausgesprochen wurde, lag zwischen beiden ein Unterschied wie zwischen Herr und gnädiger Herr, zwischen Domine und Domne. Es war offenbar der Gruß des Lehrers an einen Schüler.
„Nun?“ fragte der Archidiakonus nach einem neuen Schweigen, das Meister Jacques zu stören sich wohl hütete, „es ist Euch gelungen?“
„Ach, Herr“, sagte der andere mit traurigem Lächeln, „Asche bekomme ich, so viel ich will, aber kein Körnchen Gold.“
Dom Claude machte eine verdrießliche
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