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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Kirche sieht. Ist’s nicht der Sämann? – Meister, woran denkt Ihr?“

    *Lateinisch: Eine Hexe oder Gespenst.
    Dom Claude, in Gedanken versunken, hörte nicht auf ihn. Charmolue folgte der Richtung seines Auges und sah, daß es mechanisch auf ein großes Spinngewebe geheftet war, das die Luke füllte. Eine unbedachtsame Fliege, welche die Märzsonne suchte, stürzte sich in das Netz und ward gefangen. Bei der Erschütterung des Netzes kam die dicke Kreuzspinne aus dem Mittelpunkte hervor und stürzte sich in einem Sprunge auf die Fliege, die sie mit den beiden vorderen Fühlhörnern zerriß, während ihr scheußlicher Rüssel in den Kopf der Fliege drang. –
    „Arme Fliege“, sprach der königliche Prokurator am geistlichen Gerichtshofe und streckte die Hand aus, sie zu retten. Der Archidiakonus aber fuhr plötzlich auf und hielt seinen Arm mit konvulsivischer Kraft zurück.
    „Meister Jacques“, rief er aus, „laßt dem Verhängnis seinen Lauf.“ – Der Prokurator wandte sich erschrocken um; es schien ihm, als packe eine eiserne Zange ihn am Arm. Der Blick des Priesters war starr, fest, flammend auf die furchtbare Gruppe der Fliege und Spinne gerichtet. „Ja“, rief der Priester mit einer Stimme, die aus dem Innersten seines Herzens zu dringen schien, „seht da, ein Symbol für alles! Neu geboren, flattert sie heiter, sucht Frühling, Luft und Freiheit! Ach! Dringt sie in die unheilvolle Rosette, stürzt die Spinne hervor! Arme Tänzerin! Arme Fliege! Meister Jacques, hindert die Spinne nicht! Es ist Verhängnis. – Ach, Claude, du bist die Spinne und zugleich die Fliege! Du flogst der Wissenschaft, dem Licht, der Sonne zu, du strebtest nur die Klarheit ewiger Wahrheit zu erreichen, du stürztest dich der blendenden Luke entgegen, die in die höhere Welt hinreicht, in die Welt des Lichtes, des Geistes und Wissens! Blinde Fliege, wahnsinniger Lehrer! Du erblicktest nicht das feine Spinnengewebe, welches zwischen dir und dem Lichte das Schicksal ausspannte! Elender Tor, du stürztest dich hinein, und jetzt ringst du mit zerbrochenem Haupt und ausgerissenen Flügeln mit den eisernen Gitterstangen des Schicksals. – Meister Jacques! Meister Jacques! Laßt die Spinne in Ruh!“
    „Ich gebe Euch mein Wort“, sprach Charmolue, „ich will ihr nichts tun. Aber, Meister, laßt meinen Arm los, Ihr habt ja eine Hand wie eine eiserne Zange.“
    Der Archidiakonus hörte nicht auf ihn. „Ich Wahnsinniger“, fuhr er fort, ohne den Blick von der Luke abzuwenden. „Und hättest du das furchtbare Geflecht mit den Flügeln durchbrochen, wähnst du das Licht erreicht zu haben? Ach, das nahe Glas, die durchsichtige Schranke, die Kristallmauer, reiner als Erz, kannst du nicht durchbrechen. Oh Eitelkeit des Wesens! Wie zerschmettern sich an dir die Weisen flatternd die Stirn! Wieviel Systeme stoßen sich schwirrend an diesem ewigen Glase!“
    Er schwieg. Die letzten Worte, die seine Gedanken von ihm selbst auf die Wissenschaft abgeleitet hatten, schienen ihn zu beruhigen. Charmolue führte ihn gänzlich zur Wirklichkeit zurück durch die Frage: „Aber Meister, wann wollt Ihr mir helfen, Gold zu machen? Es dauert mir zu lange, bis mir dies gelingt.“
    Der Archidiakonus erhob das Haupt mit bitterem Lächeln: „Meister Jacques, lest Michel Pfellus’ Dialogua de energia et operatione daemonum. Was wir beginnen, ist nicht ganz unschuldig.“
    „Sprecht leise, Meister. Ich glaube es wohl. Man muß doch aber Alchimie treiben, wenn man nichts als Prokurator des Königs mit dreißig Talern Tournois jährlichen Gehalts ist. Nur sprechen wir leise!“
    In dem Augenblick erreichte der Lärm einer kauenden Kinnlade, der vom Ofen herkam, Charmolues unruhiges Ohr.
    „Was ist das?“ fragte er. Es war der Student. Dieser hatte, während er sich in seinem Versteck sehr übel befand und sich langweilte, eine alte Brotkruste und ein Stück schimmligen Käse entdeckt. Ohne Umstände begann er beides als Frühstück und Trost zu verzehren. Da er sehr hungrig war, machte er viel Lärm mit den Zähnen und betonte jeden Mundvoll mit einem Akzent, so daß der Prokurator es endlich hörte.
    „Es ist mein Kater“, sprach der Archidiakonus, etwas verlegen. „Er verspeist einige Mäuse.“
    Diese Erklärung stellte Charmolue zufrieden.
    „Wirklich, Meister“, antwortete er mit achtungsvollem Lächeln, „alle großen Philosophen haben ihr vertrautes Tier. Ihr wißt, Servius sagt: Nullus enim locus sine genio est.“*

    * Lateinisch:

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