Der Glucksbringer
angestrengt, nicht an England zu denken oder an die Einheit, mit der Mike dort fliegen würde. Ganz zu schweigen davon, wie gefährlich seine Einsätze waren. Sie hatte etliche Statistiken gelesen und wusste inzwischen, dass Kampfgeschwader für gewöhnlich lange in der Luft blieben und mithin einem nicht zu unterschätzenden Abschuss-Risiko ausgesetzt waren. Wenn er nun gefangen genommen würde? Oder Schlimmeres? Nein, schalt sie sich, solche Erwägungen waren absolut tabu. Nicht jetzt. Sie mochte die letzten gemeinsamen Minuten nicht von derart deprimierenden Visionen überschattet wissen.
Er lockerte die Umarmung und sagte ohne Vorankündigung mit ernster Miene: »Willst du mich heiraten,
wenn der Krieg vorbei ist, Liebes?« Augen voller Liebe senkten sich in die ihren. »Wenn ich weiß, dass du auf mich wartest, dann pass ich verdammt auf, dass ich heil zu dir zurückkomme.« Er kramte in seiner Hosentasche, holte eine kleine Schachtel heraus. Ließ sie aufschnappen und enthüllte einen funkelnden Diamantring.
»O ja. Ja, Mike, natürlich will ich das.« Sie antwortete ihm unter Tränen, warf die Arme um seinen Hals, klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende. Sie wollte nicht, dass er ging. Was machte es schon aus, dass sie sich erst eine Woche kannten? Sie hatte in Mike ihre große Liebe gefunden – er war der Eine, der Mann, mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft ausmalte. Mit dem sie leben, lieben, alt werden wollte.
Er nahm den Brillantsolitär aus dem Etui und steckte ihn an ihren Ringfinger, er passte perfekt. Sie besiegelten ihre Verlobung mit einem langen Kuss und einer leidenschaftlichen Umarmung. Durch einen Schleier aus Tränen bemerkte Jenny andere Paare auf dem Bahnsteig, die eng umschlungen Abschied voneinander nahmen. Es war ein schwacher Trost, seufzte sie insgeheim, dass es anderen nicht besser erging als ihnen.
Der Stationsvorsteher setzte das Megaphon zu einer letzten Ankündigung an seine Lippen. »Letzte Aufforderung, alles einsteigen!« Wie zur Bestätigung entwich dem Schornstein der Lokomotive eine zischende Dampfwolke, und nach einem schrillen Pfiff ruckte der Zug an und setzte sich langsam in Bewegung.
»Ich muss gehen, Liebling«, sagte Mike. »Wenn ich diesen Zug verpasse, bekomme ich schwer Ärger.« Nachdenklich setzte er hinzu: »Uns blieb nicht mal Zeit, meine Eltern zu besuchen, aber ich schreibe Mum, dass
sie mit dir Kontakt aufnehmen soll. Ich möchte nämlich, dass du die beiden kennen lernst, während ich in England bin.«
Sie blinzelte die Tränen fort und lächelte tapfer. »O ja, das fände ich schön.«
Mike löste sich aus ihrer Umarmung, kniff ihr zum Abschied neckisch in die Wange. Dann schnappte er sich seinen Armeerucksack, warf ihn über seine Schulter, setzte seine Mütze auf und spurtete zu einer offenen Waggontür. Er sprang auf das Trittbrett, umklammerte das Eisengeländer und lehnte sich bedrohlich weit vor. Versuchte den Lärm des ratternden Zuges mit den Worten zu überbrüllen: »Ich liebe dich, Jenny Smith! Eines Tages wirst du Mrs. Mike Westaway!«
Jennifer kämpfte gegen die Tränen und nickte. Hielt mit einer Hand ihren Hut fest, damit der Fahrtwind des Zuges ihn nicht von ihrem Kopf wehte. Wie die vielen anderen Frauen, die ihre Männer, Geliebten und Söhne auf den Bahnsteig begleitet hatten und deren Mienen vom Schmerz des Abschieds gezeichnet waren, winkte sie stürmisch, selbst als sie Mikes attraktives Gesicht nicht mehr von den anderen Reisenden unterscheiden konnte. Erst als der letzte Waggon als dunkler Punkt am Horizont verschwand, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Dieser Abschied war der schwerste in ihrem jungen Leben gewesen, schlimmer noch als die Abreise ihres Vaters nach Afrika, wo er den Tod gefunden hatte. Oder ihres Bruders Charlie, der nach Malta gesegelt war, von wo er nie zurückgekehrt war.
Ihr grauste vor den langen, einsamen Tagen und Nächten ohne Mike. Sie kannten sich erst kurze Zeit, trotzdem hatte sich ihr Leben für immer verändert. Sie hatte Wünsche und Pläne für die Zukunft. Träume und
Hoffnungen. Der Krieg konnte schließlich nicht ewig dauern, versuchte sie sich zu trösten, als sie vom Bahnhof über die Elizabeth Street zu David Jones lief. Etliche mutmaßten, dass er noch vor Weihnachten vorbei sein würde, also in weniger als acht Monaten. Zwischen Jennys Brauen schob sich eine tiefe Falte. Pah, das behaupteten die Leute seit inzwischen fünf Jahren! Sie zog ihren Handschuh über Mikes
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