Der Glucksbringer
ganzen Welt teilnahmen. Und ihr Entwurf hatte es unter die ersten fünf geschafft! Phänomenal! Unglaublich!
Sie sprang auf, rannte durch die Hintertür und die Stufen in den Garten hinunter. Den Brief in der Hand schwenkend, schmetterte sie lautstark zu ihrer Mutter,
die in einem der Beete stand: »Mum, Mum, rat mal, was passiert ist! Deine Tochter fährt nach Paris!«
14
A uf dem Flug nach Paris mit einer Boeing 707 der Air France ertappte Linda sich dabei, dass ihre Gedanken statt um die Endausscheidung des Wettbewerbs, die am kommenden Abend stattfinden sollte, unentwegt um Tony kreisten. Während jeder Flugkilometer sie näher zu ihm brachte, schwirrten ihr eine Menge Fragen im Kopf herum. Hatte er sich in dem knappen Jahr sehr verändert? War er mit jemandem liiert? Und: Wäre es verrückt oder anmaßend, wenn sie ihn kurz anrufen würde, um Hallo zu sagen und sich danach zu erkundigen, wie es ihm ging? Schließlich war sie sozusagen in der Nähe – nur gut tausend Kilometer von Florenz entfernt. Sie verwarf die Idee gleich wieder. Sie war über die Geschichte mit Tony hinweg. Er hatte mit ihr Schluss gemacht, und der zeitliche Abstand hatte den bitteren Trennungsschmerz gemildert. Warum also in vernarbten Wunden herumstochern? Aber war die Wunde tatsächlich vernarbt?
Es war bestimmt nicht so, dass sie in ihn noch verliebt gewesen wäre. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen und mochte ihn. Außerdem wollte sie ja bloß wissen, wie es ihm ging, immerhin waren sie ja noch Freunde. Deshalb hatte sie seine Mutter angerufen und sich seine Telefonnummer in Florenz geben lassen. Eine steile Falte schob sich zwischen ihre schön geschwungenen Brauen. Und wenn sie ihn anrief und er ohne ein Wort
zu sagen wieder auflegte? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das würde Tony niemals tun.
Später, als Linda ihren Koffer in dem Dreisternehotel Claude Bernard im Quartier Latin auspackte, überlegte sie hin und her. Sie lief mehrmals ans Fenster, von wo aus sie den Blick über die Dächer von Paris genoss und auf ein Teil von Notre-Dame. Sollte sie ihn nun anrufen oder nicht? Sie hängte das Carla-Zampatti-Modellkleid vorsichtig auf einen Bügel. Ihre Mutter hatte es ihr gekauft, für das Galadiner am folgenden Abend. Schwarze Crepe-de-Chine-Seide, figurbetont geschnitten und seitlich hoch geschlitzt, war es très chic für ihren Pariser Auftritt. Ihre Finger umschlossen eine rechteckige Samtschachtel. Die Topasbrosche solle ihr Glück bringen, hatte ihre Mutter gemurmelt und ihr das Schmuckstück schweren Herzens geliehen. Linda öffnete das Kästchen und betrachtete den durchschimmernden Stein mit dem weichen Feuer. Er war nicht ganz unschuldig daran, dass sie jetzt hier war. Plötzlich kam ihr ein Gedanke: War an dieser Glücksbringer-Geschichte womöglich doch was dran? Sie lächelte sanft und schloss den Deckel des Schmucketuis. Morgen Abend würde sie es wissen – so oder so.
Nachdem sie ihren Schlafanzug angezogen hatte, sank sie auf das breite Bett und glitt unter die Laken. Sollte sie Kontakt zu Tony aufnehmen oder nicht?, grübelte sie und entschied, die Sache noch eine Nacht zu überschlafen.
Mit Tony zu telefonieren war ganz so wie früher. Als Linda sich mit ihrem Namen meldete, merkte sie, dass er zunächst baff war vor Verblüffung.
»Linda! Hi. Hallo.« Pause. »Mensch, toll, deine Stimme zu hören.«
Danach plauderten sie eine geschlagene halbe Stunde. Sie erzählte ihm, dass sie in Paris war und was sie dort machte. Und wollte wissen, wie ihm Florenz gefiel und ob er sich gut eingelebt hatte. Wie es mit dem Studium lief und wie er seine Freizeit verbrachte. Er schilderte ihr in glühenden Farben das Campusleben an einer italienischen Uni und idyllische Ausflüge mit der Vespa, die er mit seinen Kommilitonen unternahm. Eine neue Flamme in seinem Leben erwähnte er mit keinem Wort, und Linda beließ es dabei. Offenbar war er noch solo. Sie hatte jedenfalls den Eindruck, als wollte er keine feste Beziehung eingehen.
»Wie lange wirst du in Paris bleiben?«
»Zehn Tage. Mehr kann ich mir nicht leisten. Paris ist nicht ganz billig.«
»Wenn ich das eher gewusst hätte, hätte ich vorbeigeschaut und dir an deinem großen Abend Händchen gehalten.«
»Echt süß von dir, aber ich pack das schon allein.« Das war der Tony, wie sie ihn kannte: zuvorkommend und feinfühlig.
Sie plauderten noch eine Weile, und er versprach ihr, sie am nächsten Morgen wieder anzurufen. Er sei genauso gespannt auf den Ausgang
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