Der Glucksbringer
Neujahrstag dessen Eltern. Sie ging mit gemischten Gefühlen hin, gleichwohl empfingen die Vincentes sie wie eine verloren geglaubte Tochter.
Sie umarmten sie, küssten sie auf beide Wangen und drängten darauf, dass sie zum Essen blieb. Dabei erfuhr sie, dass Tony sich in Florenz gut eingelebt hatte. Zudem erwähnten seine Eltern ganz beiläufig, dass er wohl noch keine neue Freundin habe.
Im Januar erfuhr sie, dass sie ihr Design-Diplom bestanden hatte. Die Verleihungsfeier sollte im April stattfinden. Auf Drängen ihres Vaters begann sie bei Westaways in der George Street, in dem alteingesessenen, noch von ihrem Großvater eingerichteten Juwelierladen. Ihr Vater war der Meinung, dass dies die optimale Gelegenheit sei, um das Geschäft von der Pike auf zu erlernen. Und Linda gab ihm Recht.
Tony Vincente schlenderte über den Ponte Vecchio, einen seiner Lieblingsorte in Florenz. Obwohl in den Wintermonaten weniger Touristen in die schöne historische Stadt kamen, war der Ort recht belebt. Ein kühler Wind wehte vom Fluss Arno herüber, und er grub die Hände tief in die Manteltaschen, während er achtlos die vielen Geschäfte passierte. Die Auslagen interessierten ihn nicht.
Er war auf dem Weg zu Bardi’s Taverna, wo er sich mit Freunden von der Uni auf ein paar Drinks und ein vorgezogenes Abendessen treffen wollte. Die Taverne lag nicht weit weg vom Haus seines Onkels, wo er wohnte. Folglich lief er zu Fuß, statt seine Vespa zu nehmen, obwohl der Roller das geniale Fortbewegungsmittel in den engen Gassen und Straßen war.
Angesichts seiner italienischen Vorfahren war es ihm nicht besonders schwergefallen, sich mit dem Dolce Vita anzufreunden. Irgendwie bewunderte er das Leben in den italienischen Familien. Sein Onkel Giovanni legte
sich weiß Gott nicht so krumm wie sein Vater. Marco Vincentes ständig expandierendes Bauunternehmen in Sydney erforderte dessen ganzen Einsatz. Um sich wenigstens etwas zu entlasten, hatte er deswegen vor Kurzem den jüngeren Sohn Nicky mit ins Boot genommen.
Alles in allem hatte Tony sich gut eingelebt, trotzdem vermisste er sein Zuhause. Auch das vertraute Sydney, aber am meisten fehlte ihm Linda. Er hatte sich unbeschreiblich über ihre Weihnachtskarte gefreut. Sie hatte sich einen festen Platz in seinem Herzen erobert, daran war nicht zu rütteln. Studieren half. In den vergangenen acht Monaten hatte er eine Menge über die Architektur der Renaissance gelernt. Ausgehen mit Freunden lenkte ebenfalls ab oder ein gelegentliches Date mit einer der rassigen jungen Italienerinnen. Trotzdem ließ Linda sich weder aus seinen Gedanken noch aus seinem Herzen vertreiben.
Er blies die Backen auf, als die Taverne in Sicht kam, und pustete auf seine kalten Hände. Ein bisschen Gesellschaft und ein paar Gläschen von seinem Lieblings-Chianti würden ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen.
Es war Samstagmorgen, und Linda, die gerade die Post hereingeholt hatte, saß allein am Küchentisch und drehte einen Umschlag in den Fingern. Er war mit französischen Briefmarken frankiert und gestempelt. Ihr schwante bereits, was der Brief bedeutete: In wenigen Augenblicken würde sie es schwarz auf weiß haben, ob sie in die engere Wettbewerbsauswahl gekommen war oder nicht. Das Radio spielte nicht, im Haus war alles ruhig. Ihr Vater war mit ihrem Bruder Adam zum Golfspielen gefahren, ihre Mutter jätete Unkraut im
Gemüsegarten. Sie war eine begeisterte Hobbygärtnerin. Das Ticken der Küchenuhr kam Linda unerträglich laut vor, während sie bloß dasaß und den Umschlag anstarrte.
Einerseits hätte sie ihn gern geöffnet und den spannenden Moment schleunigst hinter sich gebracht; andererseits hatte sie Panik vor einer Enttäuschung. Schließlich fasste sie sich ein Herz und schlitzte seufzend das Kuvert auf.
An Miss Linda Westaway
Das International Jewellery Competition Panel freut sich, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Entwurf mit dem Titel »Die Rosemary-Kollektion« unter die fünf Finalisten gewählt wurde. Mit getrennter Post folgen Ihre Reiseunterlagen für die am 2. Mai 1971 in Paris stattfindende Galapräsentation.
Wir gratulieren zu dieser Nominierung.
Mit freundlichen Grüßen
Jacques Nouveau
- Direktion -
»Jacques Nouveau, Sie sind ein Schatz!«, rief Linda und strahlte vor Begeisterung. Sie drückte den Brief an ihre Brust. Sie und Melanie hatten sich noch am Vorabend über den Wettbewerb unterhalten und darauf getippt, dass daran bestimmt massenhaft Designer aus der
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