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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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würden, erzeugten bei ihm jetzt, da er sie selber erlebte, nur Schweigen, bis zu dem Augenblick, da er wieder in seinem Zimmer angelangt war und alle Kraft und Vorsicht darauf verwendete, die in ihm brennende Flamme des Lebens zum Verlöschen zu bringen.

    «Sag mal, Mersault, du bist doch ein gebildeter Mann», sagte der Wirt.
    «Ja, schon gut», sagte Patrice. «Ein andermal.»
    «Du hast aber eine Saulaune, heute morgen.»
     
    Mersault lächelte. Er verließ das Restaurant, überquerte die Straße und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Es lag über einer Roßschlächterei. Wenn er sich über das Balkongitter beugte, verspürte er den Geruch von Blut und konnte das Ladenschild lesen: «Zur edelsten Eroberung des Menschen». Er legte sich auf sein Bett, rauchte noch eine Zigarette und schlief ein.
     
    Er bewohnte das Zimmer, in dem seine Mutter gelebt hatte. Sie hatten lange in dieser kleinen Drei-Zimmer-Wohnung gehaust. Als er allein war, hatte Mersault zwei Zimmer an einen befreundeten Faßbinder vermietet, der mit seiner Schwester zusammen lebte, und das beste für sich selbst behalten. Seine Mutter war mit 56 Jahren gestorben. Da sie schön war, hatte sie gemeint, kokett auftreten, gut leben und brillieren zu können. Gegen die Vierzig bekam sie eine furchtbare Krankheit. Sie mußte auf Kleider und Schminke verzichten, Spitalkittel tragen, hatte ein durch grauenhafte Beulen verunstaltetes Gesicht und war wegen ihrer geschwollenen kraftlosen Beine fast zur Unbeweglichkeit verdammt. Schließlich wurde sie auch noch halb blind und tastete verzweifelt in einem farblosen Raum umher, den sie völlig verkommen ließ. Der Schlag war kurz und heftig. Es war eine nicht beachtete Zuckerkrankheit, die sie durch ihre unbedachte Lebensweise gefördert und verschlimmert hatte. Er hatte seine Studien aufgeben und Arbeit suchen müssen. Bis zum Tod seiner Mutter hatte er immer noch gelesen und nachgedacht. Und zehn Jahre lang ertrug die Kranke dieses Leben. Das Martyrium hatte so lange gedauert, daß man sich in ihrer Umgebung an ihre Krankheit gewöhnt hatte und vergaß, daß sie bei einer ernstlichen Verschlimmerung ihr erliegen könnte. Eines Tages starb sie. In der Nachbarschaft bemitleidete man Mersault. Man versprach sich viel von der Beerdigung im Gedanken an das tiefe Gefühl das Sohnes für seine Mutter. Man beschwor die entfernten Verwandten, nicht zu weinen, damit Patrice seinen Schmerz nicht noch stärker empfand. Man bat sie inständig, sich seiner anzunehmen und sich ihm zu widmen. Er indessen kleidete sich, so gut er nur irgend konnte, und schaute mit dem Hut in der Hand den Vorbereitungen zu. Er folgte dem Sarg, nahm an der kirchlichen Handlung teil, warf seine Handvoll Erde in das Grab und drückte alle Hände. Nur einmal äußerte er seine Verwunderung und Unzufriedenheit darüber, daß es so wenig Wagen für die Geladenen gab. Das war alles. Am nächsten Tage konnte man an einem der Fenster der Wohnung ein Schild sehen: «Zu vermieten». Jetzt bewohnte er das Zimmer seiner Mutter. Früher hatte das ärmliche Leben zusammen mit seiner Mutter etwas Tröstliches gehabt. Wenn sie sich am Abend zusammenfanden und beim Licht der Petroleumlampe schweigend aßen, wohnte dieser Einfachheit und Zurückgezogenheit etwas inne, das wie ein heimliches Glück war. In ihrem Viertel ging es ruhig zu. Mersault betrachtete den schlaffen Mund seiner Mutter und lächelte. Sie lächelte ebenfalls. Er fing wieder zu essen an. Die Lampe blakte ein wenig. Mit der immer gleichen Bewegung schraubte seine Mutter den Docht herunter, sie streckte nur den rechten Arm aus und blieb zurückgelehnt sitzen. «Du hast offenbar keinen Hunger mehr», meinte sie etwas später. «Nein.» Er rauchte oder las. Im ersteren Fall pflegte seine Mutter zu sagen: «Schon wieder!» Im zweiten: «Rück doch näher an die Lampe heran, du verdirbst dir noch die Augen.» Jetzt dagegen empfand er das ärmliche Leben in der Einsamkeit als ein schreckliches Elend. Und wenn Mersault voll Trauer an die Entschwundene dachte, wendete er sein Mitleid in Wirklichkeit an sich selbst. Er hätte behaglicher wohnen können, aber er hing an dieser Behausung und ihrem Armeleutegeruch. Hier wenigstens spürte er noch einen Zusammenhang mit dem, was er gewesen war, und in einem Leben, dem er gern zu entrinnen suchte, erlaubte ihm diese trübselige, geduldig geübte Gegenüberstellung, sich in den Stunden der Traurigkeit und der Wehmut wieder auf sich selbst zu

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