Der glückliche Tod
besinnen. Er hatte an der Tür ein am Rande zerschlissenes Stückchen graue Pappe hängen lassen, auf das seine Mutter mit Blaustift ihren Namen geschrieben hatte. Er hatte auch das alte Messingbett mit der Decke aus Baumwollsatin und das Porträt seines Großvaters mit seinem kleinen Bärtchen und seinen unbeweglichen hellen Augen behalten. Auf dem Kamin umgaben Schäfer und Schäferinnen eine alte Stutzuhr, die nicht mehr ging, und eine Petroleumlampe, die er fast nie anzündete. Die schäbige Einrichtung, die etwas eingesessenen Rohrstühle, der Schrank mit der gelb gewordenen Spiegeltür und der Waschtisch, an dem die eine Ecke fehlte, existierte für ihn nicht, denn die Gewohnheit hatte alles nivelliert. Er bewegte sich in einer schattenhaften Umgebung, die nicht die geringste Bemühung von ihm verlangte. In einem anderen Zimmer hätte er sich an Neues gewöhnen und damit erst wieder kämpfen müssen. Er hatte das Bedürfnis, die Angriffsfläche, die er der Umwelt bot, möglichst klein zu halten und zu schlafen, bis alles vollendet sein würde. Bei dieser Absicht war das Zimmer eine Hilfe für ihn. Es ging einerseits auf die Straße, andererseits auf eine Terrasse, auf der immer Wäsche hing. Und hinter der Terrasse sah man kleine, von hohen Mauern umschlossene Gärten mit Orangenbäumen. Zuweilen, in Sommernächten, machte er im Zimmer kein Licht und öffnete das Fenster, das auf die Terrasse und die dunklen Gärten ging. Von dem einen Dunkel zum andern stieg der sehr starke Orangenduft auf und umhüllte ihn mit seinem leichten Gewoge. Die ganze Sommernacht hindurch waren dann sein Zimmer und er selbst von diesem zugleich durchdringenden und schweren Duft erfüllt, und es war ihm, als öffne er nach langen Tagen des Gestorbenseins zum ersten Mal sein Fenster auf das Leben.
Er erwachte mit einem Mund, der noch von Schlaf erfüllt war, und schweißbedeckt. Es war sehr spät. Er kämmte sich, lief eilig hinunter und sprang in eine Tram. Um zwei Uhr fünf war er in seinem Büro. Er arbeitete in einem großen Raum, dessen vier Wände mit 414 Fächern bedeckt waren, in denen sich Akten häuften. Das Zimmer war weder schmutzig noch schäbig, machte aber zu jeder Tagesstunde den Eindruck einer Urnenhalle, in der die toten Stunden verwesten. Mersault überprüfte Seefrachtbriefe, übersetzte die Proviantlisten englischer Schiffe und empfing von drei bis vier Uhr Kunden, die Stückgut versenden wollten. Er hatte sich um diese Arbeit bemüht, obwohl sie eigentlich nicht zu ihm paßte. Doch anfangs hatte er darin etwas wie einen Zugang zum Leben gesehen. Hier gab es lebendige Gesichter, Kunden, Abwechslung und einen frischen Luftzug, in dem er endlich sein Herz schlagen fühlte. Auf diese Weise entrann er den Gesichtern der drei Stenotypistinnen und dem Bürochef, Monsieur Langlois. Die eine der Stenotypistinnen war ganz hübsch und seit kurzem verheiratet. Die andere lebte bei ihrer Mutter, und die dritte war eine energische, würdevolle alte Dame, deren blumenreiche Sprache und deren Zurückhaltung in bezug auf «ihre Schicksalsschläge», wie Langlois es nannte, Mersault schätzte. Langlois hatte zuweilen mit ihr scharfe Auseinandersetzungen, bei denen jedoch stets die alte Madame Herbillon die Oberhand behielt. Sie verachtete Langlois, weil seine verschwitzte Hose ihm am Hinterteil klebte und wegen der Panik, die ihn in Gegenwart des Direktors und manchmal auch am Telefon befiel, wenn er den Namen eines Advokaten oder eines großen Tiers mit Adelsprädikat hörte. Der Unglückliche bemühte sich vergebens, die alte Dame milder zu stimmen oder sogar für sich einzunehmen. An diesem Abend tänzelte er im Büro umher. «Nicht wahr, Madame Herbillon, Sie finden mich doch sympathisch?» Mersault übersetzte gerade vegetables, vegetables, und hob den Blick zu der Glühbirne empor, die mit ihrem Schirm aus gefalteter grüner Pappe über seinem Kopf hing. Vor sich hatte er einen grellfarbigen Kalender, auf dem die Dankprozession der Neufundlandfahrer abgebildet war. Schwämmchen, Schreibunterlage, Tintenfaß und Lineal befanden sich wohlausgerichtet auf seinem Tisch. Seine Fenster gingen auf riesige Holzstapel, die auf gelb-weißen Frachtdampfern aus Norwegen hergeschafft worden waren. Er horchte. Hinter der Mauer atmete das Leben auf dem Meer und im Hafen in kräftigen dumpfen und tiefen Zügen. So nahe und doch für ihn so fern... Das Sechs-Uhr-Schlagen befreite ihn. Es war ein Samstag.
Zu Hause angekommen, legte
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