Der glückliche Tod
wilder Freiheit darin fest, nachdem er sie lange mit seinen eigenen Lippen liebkost hatte. Am gleichen Tage war sie seine Geliebte geworden. Nach einiger Zeit hatten sie in ihrem Umgang eine vollkommene Harmonie erreicht. Doch als er sie besser kannte, hatte er allmählich das spontane Gefühl jener Fremdheit verloren, die er in ihren Augen gelesen hatte und die er, über ihren Mund geneigt, noch manchmal neu erstehen zu lassen versuchte. Und so hatte Marthe, an Mersaults Zurückhaltung und Kälte gewöhnt, niemals begriffen, weshalb er in einer vollbesetzten Trambahn eines Tages verlangt hatte, daß sie ihm ihre Lippen bot. Verwirrt hatte sie sie ihm zugewandt. Und er hatte sie auf die Weise geküßt, wie er es gern tat, nämlich indem er ihre Lippen erst nur zärtlich berührte und dann langsam in sie hineinbiß. «Was fällt dir ein?» hatte sie gesagt. Er hatte gelächelt, wie sie es gern an ihm mochte, mit jenem kurzen Lächeln, das eine Antwort war, und gesagt: «Ich habe Lust gehabt, mich schlecht zu benehmen» — um dann wieder in Schweigen zu verfallen. Sie verstand auch Patrices Wortschatz nicht. Nach dem Liebesakt, in jenem Augenblick, da in dem befreiten und entspannten Körper das Herz in eine Art Schlummer verfällt, erfüllt nur von der zärtlichen Zuneigung noch, die man einem niedlichen Hund entgegenbringt, sagte Mersault lächelnd zu ihr: «Guten Tag, Traumbild.»
Marthe war Stenotypistin. Sie liebte Mersault nicht, war ihm aber in dem Maße zugetan, wie er ihr Rätsel aufgab und ihr schmeichelte. Seit dem Tage, an dem Emmanuel, den Mersault ihr vorgestellt hatte, von ihm sagte: «Sie müssen wissen, Mersault ist ein feiner Kerl. Es steckt etwas in ihm, aber er läßt es nicht heraus. Deshalb täuscht man sich», betrachtete sie ihn voll Neugier. Und da er sie in der Liebe glücklich machte, verlangte sie nichts weiter, sondern paßte sich, so gut es ging, diesem schweigsamen, sich wenig bemerkbar machenden Liebhaber an, der niemals etwas von ihr verlangte, aber sie nahm, wenn sie gern zu ihm wollte. Sie war lediglich etwas befangen diesem Menschen gegenüber, dessen innere Zerrissenheit ihr verborgen blieb.
An jenem Abend jedoch spürte sie beim Verlassen des Kinos, daß Mersault eine empfindliche Stelle hatte. Sie schwieg den ganzen Abend über und schlief bei ihm. Er rührte sie die ganze Nacht nicht an. Doch von da an nahm sie ihren Vorteil wahr. Sie hatte ihm schon gesagt, sie habe Liebhaber gehabt. Sie wußte auch die nötigen Beweise zu finden.
Am folgenden Tag kam sie gegen ihre Gewohnheit nach der Arbeit zu ihm. Sie traf ihn schlafend an und setzte sich an das Fußende seines Messingbettes, ohne ihn zu wecken. Er hatte die Jacke ausgezogen, und seine aufgestreiften Ärmel gaben die weiße Unterseite seines muskulösen braungebrannten Unterarms frei. Er atmete regelmäßig, mit Brust und Bauch zugleich. Zwei Falten zwischen seinen Brauen verliehen ihm einen Ausdruck von Kraft und Starrsinn, den sie gut an ihm kannte. Sein Haar fiel ihm in Locken in die stark gebräunte Stirn, auf der eine Ader hervortrat. Und wie er da erschlafft auf seinen breiten Schultern lag, die Arme am Körper ausgestreckt und das eine Bein halb angewinkelt, wirkte er wie ein einsamer, eigenwilliger Gott, der im Schlaf in eine fremde Welt geraten war. Beim Anblick seiner vollen, im Schlaf geschwellten Lippen verspürte sie Verlangen nach ihm. In diesem Augenblick schlug er die Augen auf, schloß sie erneut und sagte ohne Zorn in der Stimme:
«Ich mag nicht, wenn man mich im Schlaf beobachtet.» Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Er lag weiter unbeweglich da.
«Ach, Liebling, das ist wieder eine von deinen Marotten.»
«Nenne mich nicht Liebling, hörst du? Ich habe es dir schon einmal gesagt.»
Sie schmiegte sich an ihn und betrachtete ihn von der Seite.
«Ich frage mich, wem du jetzt ähnlich siehst.»
Er zog seine Hose weiter herauf und drehte ihr den Rücken zu. Oft erkannte Marthe im Kino, bei fremden Menschen, oder im Theater Gesten und Eigenheiten wieder, die Mersault an sich hatte. Daraus ersah er im übrigen, welchen Einfluß er auf sie hatte, aber heute reizte ihn diese Gewohnheit, die ihm sonst schmeichelte. Sie preßte sich an seinen Rücken und verspürte so an Leib und Brüsten die Wärme seines Schlafs. Draußen wurde es sehr schnell dunkel, und das Zimmer versank in Finsternis. Aus dem Innern des Hauses drang Geheul von Kindern, die geschlagen wurden, das Miauen
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