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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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einer Katze, das Klappen einer Tür zu ihnen herauf. Die Straßenlampen erhellten den Balkon. Vereinzelt fuhren Trambahnen vorbei. Und danach stieg der dem Viertel eigene Geruch nach Anisette und gegrilltem Fleisch in schweren Wolken zu dem Zimmer empor.
     
    Marthe merkte, daß sie schläfrig wurde.
    «Du siehst aus, als ob du ärgerlich wärst», sagte sie. «Gestern schon... deshalb bin ich gekommen. Hast du mir nichts zu sagen?» Sie schüttelte ihn. Mersault blieb unbeweglich liegen, er fixierte in dem nun schon dichten Dunkel die glänzende Spitze eines Schuhs unter dem Waschtisch.
    «Weißt du», sagte Marthe, «dieser Mensch da gestern abend . . . Also, ich habe übertrieben. Er ist nicht mein Liebhaber gewesen.»
    «Nein?» fragte Mersault.
    «Jedenfalls nicht ganz.»
    Mersault sagte nichts. Er sah ganz genau die Gesten vor sich, das Lächeln ... Er biß die Zähne zusammen. Dann stand er auf, öffnete das Fenster und setzte sich wieder auf das Bett. Sie schmiegte sich an ihn, schob die Hand zwischen zwei Knöpfe seines Hemdes und streichelte seine Brust.
    «Wieviel Liebhaber hast du gehabt?» fragte er schließlich.
    «Ach, du bist langweilig.»
    Mersault schwieg.
    «Zehn etwa», sagte sie.
    Aus Müdigkeit hatte Mersault Lust nach einer Zigarette.
    «Kenne ich sie?» fragte er und zog die Packung heraus.
    Er sah nur etwas Weißes an Stelle von Marthes Gesicht. «Wie bei der Liebe», dachte er.
    «Ein paar davon, ja. Hier aus dem Viertel.»
    Sie rieb ihren Kopf an seiner Schulter und sprach mit jener Kleinmädchenstimme, die Mersault immer rührte.
    «Hörzu, Kleines», sagte er . . . (Er zündete seine Zigarette an.) «Du mußt mich recht verstehen. Du versprichst mir, daß du mir ihre Namen nennst. Und die anderen, die, die ich nicht kenne, versprich mir, daß du sie mir zeigst, wenn wir ihnen begegnen.»
    Marthe warf sich zurück: «O nein!»
    Ein Auto hupte rücksichtslos unter den Fenstern des Zimmers, noch einmal und dann zweimal, ganz lange. Das Klingeln der Trambahn tönte im tiefen Dunkel. Auf der Marmorplatte des Waschtischs tickte hart der Wecker. Mühsam brachte Mersault noch hervor:
    «Ich verlange das von dir, weil ich mich kenne. Wenn ich nicht Bescheid weiß, wird es bei jedem Kerl, den ich irgendwo treffe, dasselbe sein. Ich werde mich fragen, ich werde mir Dinge vorstellen, deshalb. Ich werde mir zuviel einbilden. Ich weiß nicht, ob du das verstehst.»
     
    Sie verstand es nur zu gut. Sie sagte ihm die Namen. Einen einzigen kannte Mersault nicht. Der letzte war ein junger Mann, den er kannte. An den nun mußte er denken, denn er wußte, daß er sehr hübsch war und von den Frauen vergöttert wurde. Was ihn an der Liebe wunderte, war — beim ersten Mal wenigstens  — die schreckliche Intimität, mit der die Frau sich abfand, die Bereitschaft, den Leib eines Unbekannten in ihren Leib aufzunehmen. In diesem Geschehenlassen, dieser Hingabe und diesem Rausch offenbarte sich ihm die überwältigende und erniedrigende Macht der Liebe. Und diese Intimität stellte er sich als erstes zwischen Marthe und ihrem Liebhaber vor. In diesem Augenblick setzte sie sich auf den Bettrand und zog, den linken Fuß auf den rechten Schenkel gestützt, erst den einen Schuh aus, dann den anderen und ließ sie fallen, so daß der eine auf der Seite lag, der andere auf seinem hohen Absatz stand. Mersault merkte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Im Magen verspürte er ein bohrendes Gefühl.

    «Das also hast du mit René gemacht?» fragte er lächelnd.
    Marthe hob den Blick.
    «Was du dir da in den Kopf setzt», sagte sie. «Er hat mich nur einmal gehabt.»
    «Aha!» sagte Mersault.
    «Und außerdem habe ich nicht einmal die Schuhe ausgezogen.»
    Mersault stand auf. Er sah sie, in ihren Kleidern, auf einem ebensolchen Bett wie diesem hier auf dem Rücken liegen, ganz und gar hingegeben. Er schrie: «Halt den Mund!» und ging auf das Fenster zu.
     
    «Oh, Liebling!» sagte Marthe, die auf dem Bett saß, die nur noch mit Strümpfen bekleideten Füße auf dem Boden.
     
    Mersault beruhigte sich beim Anblick des Lichterspiels der Lampen auf den Schienen. Niemals hatte er sich Marthe so nahe gefühlt. Und da er zugleich begriff, daß er sich ihr ein wenig mehr öffnete, flammte der Stolz in seinen Augen auf. Er ging wieder zu ihr und faßte mit dem gekrümmten Zeigefinger und dem Daumen die warme Haut ihres Halses unter dem Ohr. Er lächelte.
     
    «Und dieser Zagreus, wer ist das? Er ist der einzige, den ich

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