Der glückliche Tod
nicht kenne.»
«Der», sagte Marthe lachend, «den sehe ich noch manchmal.»
Mersault preßte mit den Fingern die Haut zusammen.
«Das war mein erster, weißt du. Da war ich noch ganz jung. Er war etwas älter. Jetzt sind ihm beide Beine amputiert. Er lebt ganz allein. Da gehe ich manchmal zu ihm. Er ist sehr anständig und gebildet. Er tut nichts als lesen. Damals war er Student. Er ist sehr lustig. Ein komischer Kerl. Übrigens drückt er sich aus wie du. Auch er sagt zu mir: «Traumbild, komm her zu mir.»»
Mersault überlegte. Er ließ Marthe los, die sich rückwärts auf das Bett warf und die Augen schloß. Gleich darauf setzte er sich neben sie und suchte, über ihre halbgeöffneten Lippen gebeugt, die Zeichen ihrer animalischen Göttlichkeit und zugleich das Vergessen für einen Schmerz, den er als unwürdig empfand. Aber dann löste er sich von ihrem Mund, ohne auf weiterem zu bestehen.
Als er Marthe zurückbegleitete, sprach sie zu ihm von Zagreus. «Ich habe ihm von dir erzählt», sagte sie. «Ich habe ihm gesagt, mein Freund sei sehr schön und sehr stark. Darauf hat er gesagt, er würde dich gern kennenlernen. Weil, sagte er, es mir atmen hilft, wenn ich einen schönen Körper sehe.»
«Auch wieder so ein komplizierter Kerl», sagte Mersault.
Marthe wollte ihm Vergnügen bereiten und hielt den Augenblick für gekommen, ihm die kleine Eifersuchtsszene vorzuspielen, die sie plante und ihm gewissermaßen schuldig zu sein glaubte.
«Weniger als die, mit denen du befreundet bist.»
«Wen meinst du damit?» fragte Mersault ehrlich erstaunt.
«Die Schäfchen, du weißt doch?»
Die Schäfchen, das waren Rose und Claire, Studentinnen aus Tunis, die Mersault gekannt hatte und mit denen er den einzigen Briefwechsel seines Lebens führte. Er lächelte und packte Marthe am Nacken. So gingen sie eine ganze Weile dahin. Marthe wohnte nahe beim Exerzierplatz. Die Straße war lang, und Licht strahlte aus allen Fenstern im oberen Teil der Häuser, während die untere Partie, lauter geschlossene Läden, schwarz und finster war.
«Sag, Liebling, du liebst sie doch nicht etwa, diese Schäfchen, oder doch?»
«Aber nein», antwortete Mersault.
Sie schritten aus, während Mersault seine Hand auf Marthes Nacken hielt, über den sich warm ihre Haare breiteten.
«Du liebst mich», sagte Marthe ohne Übergang.
Mersault wurde plötzlich munter und lachte sehr laut.
«Das ist eine sehr ernste Frage.»
«Antworte.»
«In unserem Alter liebt man doch nicht, wie du weißt. Man gefällt einander, aber das ist auch alles. Später erst, wenn man alt und impotent ist, kann man einander lieben. In unserem Alter glaubt man nur, man liebt. Das ist alles, sonst gibt es da nichts.»
Sie schien ein wenig traurig, aber er küßte sie. «Auf Wiedersehen, Liebling», sagte sie. Mersault kehrte durch die dunklen Straßen zurück. Er ging schnell und war sich des Spiels seiner Muskeln unter dem glatten Stoff der Hose bewußt, und er dachte an Zagreus und daran, daß man ihm die Beine abgenommen hatte. Er verspürte den Wunsch, ihn kennenzulernen, und beschloß Marthe zu bitten, ihn ihm vorzustellen.
Das erste Mal, als er Zagreus sah, war er innerlich sehr erregt. Gleichwohl hatte Zagreus sich Mühe gegeben, die Peinlichkeit zu mildern, die sich für die Phantasie bei der Begegnung zweier Liebhaber ein und derselben Frau in deren Gegenwart einstellt. Zu diesem Zweck hatte er versucht, Mersault zum Komplicen zu machen, indem er Marthe ein «braves Mädchen» nannte und kräftig dabei lachte. Mersault hatte sich daran gestoßen. Er sprach es Marthe gegenüber, sobald sie wieder allein waren, unumwunden aus.
«Ich mag diese halben Portionen nicht. Es ist mir unangenehm. Es hindert mich am Denken. Und besonders mag ich keine halben Portionen, die auch noch angeben wollen.»
«Ach du», antwortete Marthe, die nicht begriffen hatte. «Wenn man dich so hört. . . »
In der Folgezeit aber fesselte jenes jungenhafte Lachen, das ihn zunächst aufgebracht hatte, seine Aufmerksamkeit und sein Interesse. Auch die schlecht verhohlene Eifersucht, die Mersault in seinem Urteil anfangs beeinflußt hatte, war verschwunden, als er Zagreus sah. Marthe, die in aller Unschuld auf die Zeit zurückkam, in der sie mit Zagreus befreundet gewesen war, erteilte er den Rat:
«Verliere nicht deine Zeit. Ich kann auf einen Kerl, der keine Beine mehr hat, nicht eifersüchtig sein. Wenn ich überhaupt
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