Der glückliche Tod
Mersault, schwieg aber weiterhin.
Zagreus trank einen Schluck von seinem Tee und stellte die volle Tasse wieder zurück. Er trank sehr wenig, um nur einmal am Tag Wasser lassen zu müssen. Durch Willenskraft gelang es ihm fast immer, das Maß an Demütigungen, das jeder Tag ihm brachte, möglichst niedrig zu halten. «Es gibt keine kleinen Ersparnisse. Dies ist ein Rekord wie jeder andere», hatte er einmal zu Mersault gesagt. Ein paar Wassertropfen fielen jetzt zum ersten Mal in den Kamin. Das Feuer knisterte. Der Regen schlug mit verstärkter Kraft an die Fensterscheiben. Irgendwo klappte eine Tür. Gegenüber auf der Straße huschten Autos vorbei wie glatte, glänzende Ratten. Eines von ihnen hupte lange, und der hohle, klagend das Tal durchhallende Ton erweiterte noch die feuchten Räume der Welt, bis selbst die Erinnerung daran für Mersault zu einer Komponente des Schweigens und der Trostlosigkeit dieses Himmels wurde.
«Ich bitte Sie um Entschuldigung, Zagreus, aber ich habe von gewissen Dingen lange nicht mehr gesprochen. Und dann weiß ich nicht mehr, oder doch nicht so recht. Wenn ich mein Leben und seine geheime Farbe betrachte, verspüre ich in mir etwas wie ein Aufquellen von Tränen. Wie der Himmel dort draußen. Er ist zugleich Regen und Sonnenschein, Mittag und Mitternacht. Ach, Zagreus! Ich denke an die Lippen, die ich geküßt habe, an das arme Kind, das ich gewesen bin, an den Wahn von Leben und Ehrgeiz, der mich in manchen Augenblicken mitreißt. Ich bin das alles zugleich. Ich bin sicher, daß es Momente gibt, in denen Sie mich nicht wiedererkennen würden. Extrem im Unglück, maßlos im Glück, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.»
«Sie treten zugleich in verschiedenen Rollen auf?»
«Ja, aber nicht als Amateur», wandte Mersault lebhaft ein. «Jedesmal, wenn ich an diesen Ablauf von Schmerz und Freude in mir denke, weiß ich recht gut und mit aller Leidenschaft, daß die Rolle, die ich gerade spiele, die ernsteste, die aufregendste von allen ist.»
Zagreus lächelte.
«Sie haben also etwas zu tun?»
Heftig stieß Mersault hervor: «Ich muß mir mein Leben verdienen. Meine Arbeit, diese acht Stunden, die andere ertragen, hindern mich daran.»
Er schwieg und zündete die Zigarette an, die er so lange schon in der Hand gehalten hatte.
«Und dennoch», fuhr er fort, bevor er sein Streichholz löschte, «wenn ich genügend Kraft und Geduld hätte . . .»Er blies das Streichholz aus und zerdrückte das verkohlte Ende auf dem Rücken seiner linken Hand. «... Ich weiß, welchen Grad von Leben ich erreichen würde. Ich würde kein Experiment aus meinem Dasein machen. Ich selber würde das Experiment meines Lebens sein... Ja, ich weiß, welche Leidenschaft mich mit all ihrer Kraft erfüllen würde. Vorher war ich zu jung. Ich stellte mich selbst in den Mittelpunkt. Heute», sagte er, «habe ich begriffen, daß Handeln und Lieben und Leiden tatsächlich Leben ist, aber Leben nur, soweit man sein Schicksal in sich einläßt und es hinnimmt als den einzigen Widerschein eines Regenbogens aus Freuden und Leidenschaften, der für alle der gleiche ist.»
«Ja», sagte Zagreus, «aber wenn Sie arbeiten, können Sie so nicht leben ...»
«Nein, weil ich mich in einem Zustand der Revolte befinde, und das ist schlecht.»
Zagreus schwieg. Der Regen hatte aufgehört, aber am Himmel war Nacht an die Stelle der Wolken getreten und hatte das Zimmer fast völlig in Dunkel gehüllt. Allein das Kaminfeuer erhellte die schimmernden Gesichter des Krüppels und Mersaults. Zagreus, der lange geschwiegen hatte, sah Patrice an und sagte nur: «Viele Schmerzen warten auf die, die Sie lieben ...» und hielt verwundert inne, als Mersault jäh aufsprang, wobei sein Kopf ins Dunkel geriet, und heftig hervorstieß: «Die Liebe, die man an mich wendet, verpflichtet mich zu nichts.»
«Das stimmt», sagte Zagreus. «Ich stellte nur etwas fest. Eines Tages sind Sie plötzlich allein, darauf kommt alles heraus. Aber setzen Sie sich und hören Sie mir zu. Was Sie mir gesagt haben, hat mich sehr angerührt. Eine Sache besonders, weil sie alles bestätigt, was mich mein Leben als Mann gelehrt hat. Ich mag Sie sehr gern, Mersault. Wegen Ihres Körpers übrigens. Durch ihn haben Sie das alles gelernt. Heute, scheint mir, kann ich ganz offen zu Ihnen sprechen.»
Mersault setzte sich langsam wieder hin, und sein Gesicht wurde erneut von dem sich immer mehr rötenden Lichtschein
Weitere Kostenlose Bücher