Der glückliche Tod
weiter am Berg entlang, und sie blieben auf ihm in einer Zone üppigen Wachstums. Die Wege waren von Berberfeigen, Oliven- und Jujubebäumen eingefaßt. Auf Eseln reitende Araber kamen ihnen entgegen. Dann stiegen sie in die Höhe. Die Sonne strahlte jetzt mit verdoppelter Kraft auf jeden Stein am Weg. Zur Mittagszeit warfen sie, von Hitze überwältigt und trunken von Düften und Müdigkeit, ihre Rucksäcke ab und gaben es auf, den Gipfel zu erreichen. Die Hänge waren felsig und mit Kieseln übersät. Eine kleine verkrüppelte Eiche nahm sie in ihren Schattenkreis auf. Sie holten ihren Proviant hervor und aßen. Das ganze Gebirge flimmerte unter dem Licht und tönte vom Zirpen der Grillen. Die Hitze stieg empor und überfiel sie auch unter ihrer Eiche. Patrice warf sich auf den Boden, preßte die Brust an die Steine und atmete brennende Düfte ein. An seinem Leib verspürte er die dumpfen Stöße des Berges, der zu arbeiten schien. Über ihrer einförmigen Wiederholung, dem betäubenden Insektengesumm zwischen den heißen Steinen und dem Ansturm der wilden Gerüche schlief er endlich ein.
Als er erwachte, war er schweißbedeckt und unendlich zerschlagen. Es mußte etwa drei Uhr sein. Die Kinder waren verschwunden. Bald kündeten Gelächter und Rufe ihre Rückkehr an. Die Hitze hatte nachgelassen. Sie mußten den Rückweg antreten. In diesem Augenblick, auf dem abschüssigen Hang, versagte bei Mersault zum ersten Mal das Herz, und er wurde ohnmächtig. Als er sich wieder erhob, sah er das jetzt sehr blaue Meer zwischen drei besorgten Gesichtern. Langsamer setzten sie den Abstieg fort. Vor den letzten Hängen bat Mersault um eine Pause. Das Meer nahm zugleich mit dem Himmel eine grünliche Färbung an, und eine sanfte Stimmung wehte vom Horizont auf sie zu. Auf den Hügeln, die um die kleine Bucht herum eine Fortsetzung des Chenoua bildeten, wurden die Zypressen allmählich schwarz. Alle schwiegen. Schließlich sagte Claire aber doch:
«Sie sehen müde aus.»
«Gewiß, kleines Mädchen.»
«Sie wissen, mich geht das ja nichts an. Aber diese Gegend ist nicht das Richtige für Sie. Sie ist zu nahe am Meer gelegen und zu feucht. Weshalb wollen Sie nicht in Frankreich in den Bergen leben?»
«Diese Gegend ist nichts für mich, Claire, aber ich bin hier glücklich. Ich fühle mich eins mit ihr.»
«Es wäre aber eben gerade, um ganz und möglichst lange glücklich zu sein.»
«Man kann nicht mehr oder weniger lange glücklich leben. Man ist es. Damit ist alles gesagt. Und der Tod hindert nichts — er ist in diesem Fall eine Nebenerscheinung des Glücks.»
Wieder schwiegen alle.
«Ich bin nicht überzeugt», meinte Rose aber dann nach einiger Zeit.
Langsam kehrten sie im sinkenden Abend zurück.
Catherine übernahm es, Bernard rufen zu lassen. Mersault war in seinem Schlafzimmer, und über das leuchtende Abbild der Fenster des Hauses hinweg erkannte er den weißen Fleck der Balustrade, das Meer wie eine dunkel wogende Leinenbahn und darüber den helleren Nachthimmel, an dem jedoch noch keine Sterne standen. Erfühlte sich schwach, aber auf eine geheimnisvoll wohltuende Art bewirkte seine Schwäche, daß er sich zugleich als leichter und hellsichtiger empfand. Als Bernard klopfte, war Mersault zumute, als ob er ihm alles sagen würde. Nicht daß sein Geheimnis auf ihm lastete. Kein Geheimnis hätte das getan. Wenn er es bis jetzt verschwiegen hatte, so auf die Weise, wie man in gewissen Kreisen seine Gedanken für sich behält, weil man weiß, daß sie auf Vorurteile und Sturheit stoßen würden. Doch heute, in diesem Zustand körperlicher Ermüdung und tiefer Aufrichtigkeit, hatte Mersault, einem Künstler gleich, der, nachdem er lange über seinem Werk gebrütet und es geschaffen hat, eines Tages die Notwendigkeit erkennt, es ans Tageslicht zu bringen und endlich mit den Menschen in Verbindung zu treten, das Gefühl, daß er sprechen sollte. Und ohne sicher zu sein, daß er es tatsächlich tun würde, erwartete er Bernard voller Ungeduld.
Von den unteren Räumen stieg zweimal ein munteres Lachen auf, das ihn lächeln machte. In diesem Augenblick trat Bernard ein.
«Nun?» sagte er.
«Nun? Sie sehen ja», sagte Mersault.
Bernard horchte ihn ab. Er konnte nichts sagen, hätte aber gern eine Röntgenaufnahme gehabt, falls Mersault imstande wäre, eine machen zu lassen.
«Später», antwortete Mersault.
Bernard schwieg und setzte sich auf das Fensterbrett.
«Ich persönlich bin
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