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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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nicht gern krank», sagte er. «Ich kenne mich da aus. Nichts ist häßlicher und erniedrigender als krank zu sein.»
    Mersault ging nicht darauf ein. Er stand von seinem Lehnstuhl auf, bot Bernard Zigaretten an, zündete sich selber eine an und sagte lachend:
    «Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Bernard?»
    «Ja.»
    «Sie baden niemals im Meer. Weshalb haben Sie sich dann diese Gegend hier ausgesucht, um sich zurückzuziehen?»
    «Ach, ich weiß nicht recht. Es ist schon so lange her.»
    Nach einer Weile setzte er hinzu:
    «Und dann habe ich auch immer aus Trotz gehandelt. Heute ist das nicht mehr so schlimm. Früher wollte ich glücklich sein, tun, was getan werden mußte, mich zum Beispiel in einem Land niederlassen, das mir gefallen hätte. Doch sentimentale Planungen sind immer falsch. Man muß einfach leben, wie zu leben für einen am leichtesten ist — das heißt, sich keinen Zwang antun. Das ist vielleicht etwas zynisch gedacht. Es ist aber auch der Gesichtspunkt des schönsten Mädchens von der Welt. In Indochina habe ich mir nichts entgehen lassen. Hier denke ich nach, weiter nichts.»
    «Ja», sagte Mersault, der, immer weiterrauchend, tief in seinem Sessel vergraben dasaß und die Decke anstarrte. «Aber ich bin nicht sicher, daß alle sentimentalen Planungen falsch sein müssen. Sie sind nur unvernünftig. Auf alle Fälle sind die einzigen Erfahrungen, die mich interessieren, diejenigen, bei denen alles so wäre, wie man es erhofft hat.»
     
    Bernard lächelte: «Ja, ein Schicksal nach Maß.»
     
    «Das Schicksal eines Menschen», sagte Mersault, ohne sich zu rühren, «ist immer passionierend, wenn er es leidenschaftlich bejaht. Und für gewisse Menschen ist ein passionierendes Schicksal in jedem Fall ein Schicksal nach Maß.»
    «Ja», sagte Bernard. Er erhob sich mit Mühe und starrte einen Augenblick, Mersault halb den Rücken zuwendend, in die Nacht hinaus.
     
    Ohne ihn anzusehen, fuhr er fort: « Sie sind außer mir der einzige Mensch hier in dieser Gegend, der ohne Gesellschaft lebt. Ich spreche nicht von Ihrer Frau oder von Ihren Freunden. Ich weiß sehr wohl, daß das alles nur Episoden sind. Dennoch kommt es mir so vor, als liebten Sie das Leben mehr als ich.» Er wendete sich um: «Denn für mich bedeutet das Leben lieben nicht, daß man Seebäder nimmt. Für mich bedeutet es, auf eine überwältigende, hemmungslose Art da zu sein. Frauen, Abenteuer, Länder. Für mich bedeutet es, zu handeln, etwas zu erringen. Ein glühendes, wunderbares Leben. Kurz, ich will sagen . . . verstehen Sie mich recht» (er schien sich zu schämen, daß er so sehr aus sich herausgegangen war), «ich liebe das Leben zu sehr, um mich mit der Natur zu begnügen.»
     
    Bernard packte sein Stethoskop ein und ließ seine Tasche zuschnappen.
     
    «Im Grunde», sagte Mersault zu ihm, «sind Sie ein Idealist.»
     
    Er selber hatte das Gefühl, daß alles m dem Moment zwischen Geburt und Tod beschlossen lag und alles danach zu beurteilen und zu rechtfertigen war.
     
    «Sehen Sie», sagte Bernard mit einem Anflug von Traurigkeit, «es ist doch so, daß das Gegenteil von einem Idealisten nur allzuoft ein Mensch ohne Liebe ist.»
     
     «Glauben Sie das nicht», sagte Mersault und reichte ihm die Hand.
    Bernard drückte sie lange.
    «So wie Sie», sagte er lächelnd, «können nur Menschen denken, die von einer großen Verzweiflung oder einer großen Hoffnung leben.»
    «Von beidem vielleicht.»
    «Oh, ich frage nicht!»
    «Ich weiß», sagte Mersault ernst.
    Aber als Bernard schon an der Tür war, rief Mersault ihn, von einem unreflektierten Impuls getrieben, zurück.
    «Ja?» sagte der Doktor und kehrte noch einmal um.
    «Sind Sie imstande, einen Menschen zu verachten?»
    «Ich glaube schon.»
    «Unter welchen Voraussetzungen?»
    Der andere dachte nach.
    «Das ist ziemlich einfach, will mir scheinen. In allen Fällen, in denen er von Eigennutz oder der Sucht nach Geld getrieben würde.»
    «Das ist allerdings einfach. Guten Abend, Bernard.»
    «Guten Abend.»
    Als Mersault wieder allein war, dachte er nach. Da, wo er angelangt war, ließ die Verachtung eines Menschen ihn kalt. Doch wurde er in Bernard tiefe Resonanzen gewahr, die ihn ihm näherbrachten. Es kam ihm unerträglich vor, daß ein Teil von ihm den andern verurteilen sollte. Hatte er aus Eigennutz gehandelt? Er war sich einfach jener wesentlichen unmoralischen Wahrheit bewußt geworden, daß Geld eines der zuverlässigsten und am schnellsten wirkenden

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