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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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überwachte die Angelschnüre, die unter dem Wasser sich schwarz hin und her wanden und bis zur Oberfläche des Meeres heraufleuchteten. Die Sonne zerbrach auf den Wellen in Tausende kleiner Splitter, und Mersault füllte seine Lungen mit einem schweren, erstickenden Geruch, der aus dem Meer wie dessen Atem aufstieg. Manchmal erwischte Pérez einen kleinen Fisch. Er warf ihn wieder ins Wasser und sagte: «Geh zu deiner Mutter.» Um elf Uhr kehrten sie zurück, und Mersault betrat mit von Fischschuppen glänzenden Händen und sonnengetränktem Gesicht wieder sein Haus wie einen kühlen Keller, während Pérez ein Fischgericht vorbereitete, das sie am Abend zusammen verzehrten. Tag für Tag ließ Mersault sich von diesem Leben treiben, wie er sich vom Wasser tragen ließ. Und wie man mit Hilfe seiner Arme und des Wassers, das einem aufnimmt und weiterführt, allmählich vorwärtskommt, so brauchte er auch nur ein paar wesentliche Gebärden, das Auflegen seiner Hand auf einen Baumstamm, einen Lauf am Strand entlang, um sich unversehrt und bewußt zu erhalten. Er kehrte auf diese Weise zu einem Leben im Urzustand zurück, er entdeckte von neuem ein Paradies, das sonst nur den intelligentesten oder den primitivsten Tieren gegeben ist. An diesem Punkt, an dem der Geist den Geist verneint, rührte er an seine Wahrheit und damit an die äußersten Grenzen seiner Herrlichkeit und seiner Liebe.
     
    Dank Bernard fand er auch Zugang zum Leben des Dorfes. Er mußte ihn einer kleinen Unpäßlichkeit wegen einmal holen lassen, und sie hatten sich in der Folge oft und mit Vergnügen wiedergesehen. Bernard war schweigsam, aber manchmal funkelte hinter seiner Hornbrille etwas auf wie eine bittere Art von Witz. Er hatte lange in Indochina praktiziert und sich dann mit vierzig Jahren in diesen Winkel Algeriens zurückgezogen. Seit einigen Jahren führte er hier ein friedliches Dasein mit seiner Frau, einer fast stummen Indochinesin, in einem modernen Schneiderkleid, die ihr Haar in einem Knoten trug. Dank seiner Befähigung zur Nachsicht paßte Bernard sich jeder Umgebung an. Dadurch liebte er das ganze Dorf und wurde von ihm wiedergeliebt. Er zog Mersault mit hinein. Dieser kannte nun schon recht gut den Inhaber des Gasthofs, einen ehemaligen Tenor, der hinter seiner Theke zu singen pflegte und zwischen zwei geröhrten Takten aus «Tosca» seiner Frau eine Tracht Prügel in Aussicht stellte. Man bat Patrice, zusammen mit Bernard dem Festkomitee beizutreten. An Festtagen wie dem 14. Juli gingen sie also mit einer Armbinde in den Farben der Trikolore umher oder diskutierten mit den anderen Komiteemitgliedern an einem Tisch, dessen grüne Eisenblechplatte von süßen Apéritifs klebrig war, über die Frage, ob die Estrade für die Musikkapelle mit Spindelbäumen oder Palmen dekoriert werden sollte. Man wollte ihn sogar in den Wahlkampf hineinziehen. Mersault aber hatte Zeit gehabt, den Bürgermeister kennenzulernen. Er «stand den Geschicken seiner Gemeinde» (wie er sich ausdrückte) «nun schon seit zehn Jahren vor», und diese sozusagen unbeschränkte Dauer machte ihn geneigt, sich für Napoleon Bonaparte zu halten. Er war ein reich gewordener Weinbauer und hatte sich ein Haus im griechischen Stil bauen lassen. Er lud Mersault ein, es zu besichtigen. Es bestand aus dem Erdgeschoß und einer weiteren Etage. Der Bürgermeister aber, der vor keinem Opfer zurückschreckte, hatte einen Aufzug einbauen lassen. Er ließ Mersault und Bernard eine Probefahrt machen. Ruhig bemerkte Bernard: «Er gleitet gut.» Von diesem Tag an war Mersault von tiefer Bewunderung für den Bürgermeister erfüllt. Bernard und er wendeten ihren gesamten Einfluß auf, um ihn in dem Amt zu halten, das ihm aus so vielerlei Gründen gebührte.
     
    Im Frühling quoll das kleine Dorf mit den eng zusammengedrängten roten Dächern zwischen Gebirge und Meer förmlich über von Blumen, von Teerosen, Hyazinthen und Bougainvilleen, und von Insektengesumm. Zur Stunde der Siesta begab Mersault sich auf seine Terrasse und sah das Dorf unter dem Übermaß an Licht schlafend und dampfend unter sich liegen. Die Geschichte des Dorfs erschöpfte sich im Grunde in der Rivalität von Morales und Bingues, zwei reichen spanischen Einwanderern, die durch eine Reihe von Spekulationen zu Millionären geworden waren. Von diesem Augenblick an hatte Größenwahn sie erfaßt. Wenn der eine ein Auto kaufte, wählte er das teuerste. Der andere kaufte sich das gleiche, ließ aber silberne

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