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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Sonnenbad auf der Terrasse zu nehmen. Mersault brachte daraufhin Bernard nach Hause. Zum zweiten Mal war Bernard Zeuge von etwas in Mersaults Leben. Sie hatten sich gegenseitig nie etwas anvertraut, Mersault in dem Bewußtsein, daß Bernard nicht glücklich sei, und Bernard aus einer gewissen Verwirrung heraus in bezug auf alles, was Mersaults Leben betraf. Die beiden trennten sich wortlos. Mersault kam mit seinen Freundinnen überein, daß sie am nächsten Tage in der Frühe alle vier zu einem Ausflug aufbrechen wollten. Der Chenoua war sehr hoch und schwierig zu besteigen. Es bestand Aussicht auf einen schönen Tag voll Ermüdung und voll Sonne.
     
    Im Morgengrauen bewältigten sie die ersten steilen Hänge. Rose und Claire gingen voraus, Patrice und Catherine folgten. Alle schwiegen. Allmählich befanden sie sich höher über dem Meer, das noch ganz weiß unter dem Frühnebel lag. Auch Patrice sagte nichts, ganz eins geworden mit dem von einem kurzen struppigen Pelz aus Herbstzeitlosen überzogenen Berg, mit den eisigen Quellen, dem Schatten, dem Licht, seinem eigenen Körper, der willig war, dann jedoch erlahmte. Sie waren auf ihrem Weg jetzt in die Phase konzentrierter Anstrengung eingetreten. Die Morgenluft schnitt in ihre Lungen wie ein glühendes Eisen oder ein scharfes Rasiermesser, und sie gaben sich ganz ihrer Bemühung, diesem Akt der Selbstüberwindung hin, durch den sie über den Hang zu triumphieren gedachten. Rose und Claire waren müde geworden und verlangsamten ihren Schritt. Catherine und Patrice übernahmen die Führung und hatten die beiden anderen bald aus den Augen verloren.
     
    «Geht es noch?» fragte Patrice.
    «Ja, es ist sehr schön.»
     
    Am Himmel stieg die Sonne immer höher, begleitet von einem Insektengeschwirr, das mit der Hitze zunahm. Bald zog Patrice sein Hemd aus und setzte den Marsch mit nacktem Oberkörper fort. Schweiß rann ihm von den Schultern, auf denen die Sonne schon Blasen hervorgerufen hatte. Sie schlugen einen kleinen Weg ein, der an der Flanke des Berges entlangzulaufen schien. Das Gras unter ihren Füßen war feuchter als zuvor. Bald empfing sie das Murmeln von Quellen und in einer Senke ein Strom von Kühle und Schatten. Sie bespritzten sich gegenseitig, tranken ein wenig, und Catherine legte sich auf das Gras, während Patrice, dem das vom Wasser dunkel und lockig gewordene Haar in die Stirn fiel, in diese mit Ruinen, schimmernden Straßen und gleißendem Sonnenschein bedeckte Landschaft hineinblinzelte. Dann setzte er sich neben Catherine.
     
    «Jetzt, wo wir allein sind, Mersault, sage mir, ob du glücklich
    bist?»
    «Schau doch hin», sagte Mersault. Die Straße flimmerte in der Sonne, und ein ganzes Volk von vielfarbig vibrierenden Insekten stieg zu ihnen auf. Patrice lächelte und rieb sich die Arme.
    «Ja, aber ich wollte etwas sagen. Natürlich brauchst du mir keine Antwort zu geben, wenn du nicht magst.» Sie zögerte. «Liebst du deine Frau?»
     
    Mersault lächelte.
     
    «Das muß ja nicht unbedingt sein.» Er faßte Catherine bei der Schulter und bespritzte, während er den Kopf schüttelte, ihr Gesicht mit Wasser: «Der Irrtum, kleine Catherine, besteht darin, zu glauben, daß man wählen, daß man tun muß, was man will, daß es Bedingungen gibt für das Glück. Worauf es einzig ankommt, siehst du, ist der Wille zum Glück, eine Art von umfassendem und stets gegenwärtigem Bewußtsein. Alles übrige - Frauen, Kunstwerke oder gesellschaftliche Erfolge — ist nur Vorwand, ein leeres Gewebe, das wartet, daß wir ein Muster darauf sticken.»
    «Ja», sagte Catherine, die Augen voller Sonne.
    «Was mir wichtig ist, ist eine gewisse Qualität von Glück. Ich kann das Glück nur in Gestalt der zähen, heftigen Konfrontation mit dem genießen, was sein Gegenteil ist. Ob ich glücklich bin? Catherine! Du kennst die berühmte Formel: «Wenn ich mein Leben noch einmal vor mir hätte» — nun gut, ich würde wieder genauso von vorn anfangen. Natürlich kannst du nicht wissen, was das besagt.»
    «Nein», sagte Catherine.
    «Wie soll ich es dir erklären, Kleines. Wenn ich glücklich bin, so dank meinem schlechten Gewissen. Ich hatte es nötig, fortzugehen und diese Einsamkeit aufzusuchen, in der ich in mir kon-
     
     frontieren konnte, was es einander gegenüberzustellen gab, was Sonne war und was Tränen... Ja, ich bin im menschlichen Sinne glücklich.»
     
    Rose und Claire hatten sie eingeholt. Sie nahmen ihren Rucksack wieder auf. Der Weg verlief

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