Der Gluecksmacher
herbeigesehnt hatte: der Tag, an dem kein Lärm mehr war.
Dimsch schauderte. Ruhig, ganz ruhig wollte er bleiben, um den Lärm nicht erneut zu wecken. Wie ein Kind im leichten Schlaf war der Lärm. Der geringste Anstoß, das leiseste Freudeseufzen über die Ruhe konnte ihn wecken und erneut losbrechen lassen. Und weil Dimsch deshalb nicht wagte, sich zu rühren, stattdessen angespannt verharrte, wurde sein Körper steinern, die Muskeln hart, der Nacken steif. Und der Lärm tat weh noch in der Stille.
Ein heftiges Stechen im Schulterblatt brauchte es; das ließ Dimsch zur Besinnung kommen. Ausschließlich jetzt lebte er, alle Philosophen hatten ihm das hundertfach gesagt. Dreigeteilt sei das Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, lehrte etwa Seneca, und nach freiem Willen gestalten könnten die Menschen es nur in der Gegenwart. Wahnsinnig also seien alle, die ihr Heute mit dem Gestern und dem Morgen vergifteten. »Sakrament!« Dimsch schlug mit den Knöcheln gegen seine Stirn. Keine weitere Sekunde durfte er mehr vergeuden, hatte sich schon verrückt genug gemacht. Nun rasch das Jetzt genießen, gleich, was war und kommen mochte. Sein Zeigefinger flog über die Buchrücken im Regal. Etwas Leichtes, etwas Luftiges sollte es sein, etwas, das ihn wie spielerisch wieder ins Leben holte. Nein, kein Kant, kein Nietzsche, kein Schopenhauer. Dalai Lama, schon besser. »Ah«, seine Fingerspitze hatte sich eingebremst und ruhte auf Malidoma Somé. Genau, dachte Dimsch, die Leichtfüßigkeit dieses Afrikaners ist jetzt genau das Richtige. Er zog das Buch aus dem Regal.
Welch herrlicher Moment! Dimsch schlug die erste Seite auf – und zuckte zusammen. Nach Stunden der Stille war draußen auf dem Gang eine Tür zugefallen.
Aufrecht saß Dimsch da, lauschte, doch es war nichts mehr zu hören, auch nach Minuten nicht. Das Paradies schien zurückgekehrt. Dumm nur, dass er ausgerechnet jetzt aufs WC musste. Er öffnete die Bürotür, schlich auf Zehenspitzen hinaus. Als er wenig später aus der Toilette trat, hörte er Schritte – und lief davon. Nach drei, vier Metern, eigens leise laufend, eigens federnd auftretend, merkte Dimsch: Zum Büro würde er es nicht mehr schaffen. Schon wurde hinter ihm die Klinke der Brandschutztür knarzend nach unten gedrückt.
Abrupt bremste er sich ein, seinen Körper gegen die Laufrichtung stemmend. In den Blickwinkel der jungen Frau, die eben die metallene Tür aufdrückte, geriet so die Rückenansicht eines sportlichen, großgewachsenen Mannes, der – doch wie sollte das sein? – den Boden entlangschwebte, ja gleichsam gleitend im Flug. Freilich war das unmöglich, der Eindruck war auch schon wieder verblasst. Ganz normale, wenn auch ausladende Schritte tat er, nichts Ungewöhnliches war daran. Hinter ihr klackte die Brandschutztür ins Schloss, da drehte der Mann sich im Gehen um, und während er diese Bewegung einleitete, überaus elegant, wie sie fand, schoss heißes Rot in ihre Ohren, denn wo war ihr Blick gewesen! Rasch woanders hinschauen, nach oben! Hat er es bemerkt? Ganz natürlich und wie selbstverständlich geht er weiter. Ausgerechnet vor meiner Tür bleibt er stehen. Aha, er arbeitet im Büro gegenüber. Da, er schaut noch einmal auf, lächelt mich noch einmal an. Wie sympathisch. Und so selbstsicher.
Dimsch schloss die Tür hinter sich, atmete energisch durch. Was für eine Frau!
Rotes Haar, tolle Figur und diese Grübchen in den Wangen! Die Hornbrille gibt ihrem Gesicht etwas Intellektuelles, wirkt aber nicht aufgesetzt, steht ihr gut. Und Stil hat sie: schwarzes Sakko, weiße Bluse, Anzughose.
Dr. Eva Fischer, Geschäftsführung,
stand auf ihrem Türschild.
Sie drückte die Tür hinter sich zu und befühlte ihre heißen Ohren. Wie peinlich, sicher hat er gesehen, dass ich ihm auf den Hintern geschaut habe. Ist aber elegant darüber hinweggegangen. Was ist das für ein Mann? Ein Manager der Versicherung eher nicht, da würde er kaum Norwegerpulli und zerbeulte Retro-Jeans tragen.
Sie lauschte an der Tür, öffnete einen Spalt und sah nach draußen. Sonderbar.
agazin B
stand in vergilbten Steckbuchstaben auf seinem Türschild.
13
Viel hätte Sebastian Dimsch vor kurzem dafür gegeben, ungestört und ohne Büronachbarn zu bleiben. Nun saß die Störung direkt gegenüber. Eva Fischer hieß sie. Eigentümlicherweise machte ihn die Störung froh. Kindisch und lächerlich freilich war dieses Glücksgefühl. Es hatte ja keinerlei nennenswerte Substanz, war nur
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