Der Gluecksmacher
Chor gesungen hatten, dass der Kunde König sei, sangen nun alle, er sei es nicht. So wie alle Kundenorientierung gerade noch als richtig und selbstverständlich empfanden, folgten sie nun geschlossen einer anderen Wahrheit – jener, die das Gegenteil besagte.
Interessant, fand Dimsch.
In der Pause erkundigte sich Irene Großburg, noch immer aufgekratzt wegen des Gelernten, ob ihm das Seminar denn nicht gefalle, er verhalte sich so zurückhaltend.
»Nein, nein«, antwortete Dimsch, »ich finde es wirklich … interessant.« Nicht einmal gelogen, dachte er.
»Das freut mich.« Großburg lachte sympathisch, griff mit einer spontanen Handbewegung nach Dimschs Oberarm – und zuckte erschrocken zurück: Sie hatte einen Stromschlag abbekommen. Dimschs Pulli war elektrostatisch aufgeladengewesen, sicherlich von der Reibung seiner Schuhe am Teppichboden. Freilich wusste Großburg ebenso wie Dimsch, dass die Spannung, die sich zwischen ihnen entladen hatte, ausschließlich physikalischen Ursprungs war und nicht das Geringste zu tun hatte mit ihrem persönlichen Befinden oder gar ihrem Verhältnis zueinander. Und dennoch: Beide deuteten die so unmittelbar erfahrene Abstoßung als weiteres Zeichen, als weiteren Beweis, dass sie einander waren wie Hund und Katz.
»Wer von Ihnen«, begann der Coach nach der Mittagspause, »wer von Ihnen bevorzugt bei Verhandlungen Win-Win-Ergebnisse?«
Die Führungskräfte der Versicherung waren vorsichtig geworden. Sie wollten nicht abermals leichtfertig in eine Falle tappen. Nur Dimsch hob reflexartig die Hand, zog sie zwar gleich wieder zurück, doch zu spät. Er fühlte, wie Blut in seinen Kopf stieg und die Ohren zu glühen begannen. So was Blödes, dachte er, ich brauche mich doch nicht schämen, für Win-Win-Lösungen zu sein. Doch deshalb hatte sein Unterbewusstes auch nicht mit der höheren Pulsfrequenz reagiert. Die Panik war ihm deshalb heiß zu Kopf geschossen, weil er, gleich einem unachtsamen Schaf, als Einziger aus der Herde ausgeschert war und damit die Aufmerksamkeit des Wolfs auf sich gezogen hatte.
Der Coach zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Dimsch. »Einer nur?« Zu gerne hätte er abermals sämtliche Anwesende vorgeführt. Aber einer tat’s natürlich auch. Er sah auf Dimschs Namensschild, das, etwas schief, vor ihm am Boden stand.
»Sebastian«, der Coach schnitt eine Grimasse, »weshalb, um Himmels willen, sind Sie für Win-Win? Erklären Sie uns das bitte!«
Dimsch fühlte, dass sich die Sache mit seiner Gesichtsfärbung nicht sonderlich verbesserte. »Ganz einfach, ich finde es gut, wenn beide Seiten profitieren.«
Der Coach ließ wie genervt den Kopf hängen und gab verächtlich Schnalzlaute von sich, blickte aber kurz danach auf und zwinkerte Dimsch zu, was zwar nicht kollegial und wie den Scherz entschuldigend gemeint war, aber so aussehen sollte.
»Was ist das Ziel, was muss das Ziel jeder Verhandlung sein?« Er wandte sich nun an alle, hob, wie beschwörend, die Arme.
Niemand wagte eine Antwort.
»Ihr seid Manager!«, krähte der Coach. »Ihr werdet doch wissen, was das Ziel einer Verhandlung ist!«
»Zu gewinnen«, sagte Großburg. Das kann nicht falsch sein, dachte sie.
»Man muss immer danach trachten«, wagte sich Torberg aus der Deckung und brachte den Oberkörper zur Unterstützung seiner Antwort in schneidige Position, »dass man am Ende zumindest ein bisschen mehr gewonnen hat als der andere.«
»Das ist ein Sieger!«, schrie der Coach. »Jawohl, so sehen Sieger aus! Schlaue Sieger! Zumindest ein bisschen mehr gewinnen als der andere«, wiederholte er Torbergs Worte. »Exakt!«
Rainer Torbergs Augen blitzten auf, selbstbewusst lächelte er Richtung Coach. In die Runde musste er nicht sehen, gut fühlte es sich an, dass alle Augenpaare auf ihn gerichtet waren.
Beim gemeinsamen Abendessen standen drei Menüs zur Auswahl, unter anderem Innereien. Lediglich der Coach wagte die Variante, was augenblicklich für Gesprächsstoff am Tisch sorgte und ein Fachsimpeln auslöste über die Ästhetik des Essens, seinen Nährwert sowie die Gesundheitszuträglichkeit. Als die Kellner die Hauptspeisen auftrugen, musste der Coach,um im Mittelpunkt zu stehen, nichts weiter tun, als seinen mit Gekröse beladenen Teller gurrend in Empfang zu nehmen. Und damit die aufgeräumte Stimmung, von der alle spüren mussten, dass sie ihm zu verdanken war, nicht verebbte, spießte er sogleich eine der gebratenen Schweinenieren auf und hielt sie mit der Gabel
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