Der goldene Kelch
krampfte sich vor Hunger zusammen, seine Seele war krank vor Sorge. Er konnte diesen verfluchten Weinschlauch morgen nicht hierher bringen, nicht, nachdem er wusste, was er enthielt. Aber was würde Gebu tun, wenn er mit leeren Händen käme? Schon beim Gedanken daran wurde sein Mund trocken vor Angst. Ranofer fürchtete sich vor Gebu und seiner harten Hand, er hatte Angst vor dem Hunger, am meisten aber hatte er Angst vor der Leere und Einsamkeit, die ihm drohte, wenn Gebu ihn aus dem Haus werfen würde. Dann müsste er auf der Straße schlafen und sich mit den Hunden um Abfälle streiten…
Ich bin ein Feigling, dachte er. Ein erbärmlicher Wurm, Gebu hatte Recht. Und morgen werde ich auch noch zum Dieb, nur weil ich Angst vor Gebu habe! Diese Einsicht half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Er, Ranofer, Sohn des Thutra, ein Dieb? Durch die krummen Akazienäste starrte er in den dunklen Himmel, an dem die Sterne nur so glitzerten, aber er sah nur Rekhs gütiges Gesicht, das plötzlich vorwurfsvoll vor ihm auftauchte. Er drehte sich um und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Ich werde es nicht tun!, entschied er aufgebracht. Nie, niemals! Ich werde diesem Schuft nicht ein Körnchen Gold bringen, nicht einmal einen Goldspan! Da kann er mich schlagen, so viel er will! Soll er doch sein Brot alleine essen! Ich werde schon irgendwo Brot auftreiben, und wenn nicht, dann eben nicht – aber ich lasse mich nicht zum Dieb machen!
Das vorwurfsvolle Gesicht des Goldschmieds verschwand aus seinen Gedanken. Seine Entscheidung erfüllte ihn mit einem Gefühl der Heldenhaftigkeit und verdrängte die Anspannung. Er stellte sich einen größeren, stärkeren Ranofer vor, einen Ranofer, der fast so groß und stark war wie Gebu. Er malte sich aus, wie er dem Steinmetz erhobenen Hauptes gegenübertrat, ihm die Stirn bot und gelassen über dessen Wutausbruch lächelte, wie er ganz einfach einen Schritt zur Seite machte und Gebus schlecht platzierten Hieben auswich, und wie er schließlich ohne einen Blick zurück für immer aus diesem verhassten Hof schritt. Dann würde er zu Djau, dem Meister, gehen und sich ihm als Schüler antragen. Ein Monat vor dem Tod seines Vaters hatte sich Djau nach dem Befinden seines alten Freundes erkundigt; damals hatte er gesagt, dass er Ranofer vielleicht nehmen würde. Djau hatte die kleinen Becher und Armbänder betrachtet, die Ranofer getrieben hatte, und hatte zu Thutra gesagt: „Dein Sohn ist geschickt. Vielleicht, wenn er älter ist…“
Dann aber starb sein Vater. Marja hatte Ranofer weinend erklärt, dass kaum noch genug Kupfer übrig sei, um Brot zu kaufen. Das Grab musste ausgestattet, der Balsamierer bezahlt und den Priestern der Nekropole Opfer dargebracht werden. Ranofer konnte auch die Schreiberschule nicht mehr besuchen und zu Djau konnte er schon gar nicht gehen, denn Djau verlangte Geld von seinen Schülern. Djau war zwar unter den Trauergästen gewesen, aber Ranofer hatte sich nicht getraut, ihn anzusprechen. Er hatte ihn nur von einer Ecke aus beobachtet und sich gesagt: Später. Vielleicht später, wenn ich älter bin. An jenem Tag war die Welt für Ranofer in Trauer und Verzweiflung versunken. Dann war Gebu gekommen. Wie ein Steinblock war er in der Tür gestanden und hatte das Sonnenlicht ausgesperrt, der Raum war plötzlich in Dunkelheit getaucht, jeder hatte sich nach ihm umgedreht. Schweigend war er eingetreten, als wäre es sein Haus – und so war es ja auch. Er hatte ein Papier in der Hand, das ihn als Erstgeborenen und Erben auswies. Djau und die anderen Freunde Thutras waren vor diesem Fremden mit dem Papier in der Hand zurückgewichen; einer nach dem anderen hatte das Trauerhaus verlassen und war aus Ranofers Leben verschwunden. Auch die alte Marja. Gebu verkaufte sie auf dem Sklavenmarkt, um das Begräbnis zu bezahlen. Er verkaufte auch Thutras Goldarbeiten, seine Werkzeuge und die Werkbank. Dann nahm er alles, was noch übrig war, auch Ranofer, und brachte es in die Straße zum Krummen Hund. Damit war Thutras Besitz aufgelöst.
Ranofer hatte sich aufgesetzt und starrte in die Dunkelheit. Verzweifelt legte er sich wieder hin und zog eine Ecke der Matte über seine nackten Beine. Ich will nicht mehr daran denken, sagte er sich. Nun wird alles anders. Ich werde Gebu die Stirn bieten, ich werde für immer die Straße zum Krummen Hund verlassen. Dann bin ich frei! Ich werde die geheime Höhle mit den Goldbarren finden und mit dem Gold werde ich für meine Ausbildung
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