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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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Djahotep fragend an, nahm die Kiste und hockte sich neben das Loch, das Djahotep gerade bohrte. Der alte Mann hielt sofort in seiner Arbeit inne. „Steh auf, Junge, oder hock dich woanders hin, auf die andere Seite. Oder willst du, dass der Sand dir die Augen auskratzt? Der Sand zerstiebt – er schneidet nicht nur Stein, sondern auch Fleisch.“
    Ranofer wich so schnell zurück, dass er stolperte und fast die Kiste fallen ließ.
    „Tst! Jetzt hast du Sand verschüttet! Lass das bloß Pai nicht sehen! Kratz ihn zusammen und sammle ihn auf! Das ist schließlich kein normaler Sand, sondern Bohrsand. Härter als Stein! So, schütte jetzt ein Quäntchen ins Loch! Ja, das reicht. Geh zur Seite!“ Djahotep setzte den Bohrer an und drehte ihn auf dem rauen, kratzenden Sand in den Stein. Ranofer sah aus einigem Abstand zu, das Geräusch ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Deprimiert starrte er auf die große, massige Platte, die einem Mann zum Dank, dass er sie bearbeitete, den Daumen, das Augenlicht oder seine Geschicklichkeit kosten konnte. Nun ja. Was wurde überhaupt aus dieser Platte gemacht? Als Djahotep den Bohrer absetzte, erkundigte sich Ranofer danach.
    „Nun, Junge, das ist der Deckel für den Sarkophag des Wedelträgers zur Rechten des Pharaos. Das da drüben bei den Fertigbearbeitern – siehst du? –, das ist der Sarkophag. Ah, es wird ein prächtiger Sarkophag, aus feinstem Rosengranit und mit diesem Deckel aus Alabaster! Soweit ich weiß, hat Seine Hoheit auch noch zwei Innensärge bestellt, einen aus fein verzapftem Akazienholz, bemalt und mit Blattgold beschlagen, und den innersten aus Zedernholz mit seinem Porträt aus massivem Gold auf dem Deckel. Hach! Der edle Herr wird ganz vornehm zu Grabe getragen werden! Füll ein bisschen Sand nach, Junge, nur ein Quäntchen, das reicht.“
    Eine Totenmaske aus massivem Gold!, dachte Ranofer, während er zusah, wie die narbige Hand des alten Mannes die Steingewichte und den Bohrer zum Rotieren brachte. Wundervoll, eine Maske zu machen! Sie wurde getrieben wie eine Schale, wie viele Schalen, die miteinander verlötet wurden; jede hatte eine andere Form –Nase, Wange, Kinn, Mund, Stirn. Welchen Holzpflock würde ich als Form für einen Mund aus Gold benutzen? Vielleicht die Kante von Rekhs kleinstem Pflock… und den kleinsten Hammer…
    Der Lärm der Steinmetzwerkstatt verebbte. Ranofer stand allein vor einer Reihe von Formpflöcken; für jeden Teil der Maske verwendete er eine andere Form und nahm einen anderen Hammer vom Werkzeugbrett. Er trieb die Wölbung der Stirn, die harte Linie des Kiefers, die feine Rundung der Oberlippe. Das goldene Auge war jedoch gar nicht so einfach. Wie sollte er das bloß anstellen? Da berührte ihn Djahotep an der Schulter und riss ihn aus seinen Tagträumen. „Sand, junger Mann, Sand!“
    Ranofer kniete sich schnell hin und nahm die Kiste. Währenddessen warf Djahotep einen Blick in den Schuppen. „Ist ja noch mal gut gegangen. Pai hat nichts gesehen. Aber du solltest dich hüten, vor dich hin zu träumen und zu trödeln, Junge. Pais Falkenauge entgeht so schnell nichts, es sieht alles und jeden. Wenn er dich beim Träumen erwischt, wirst du bald wissen, warum er immer diesen Stock bei sich trägt.“
    „Ich werde nicht mehr träumen, Djahotep.“ Ranofer hielt Wort. Aber es fiel ihm schwer. Seine Arbeit war anspruchslos, monoton und so uninteressant, dass seine Gedanken immer wieder abschweifen wollten. Ein Quäntchen Sand, langweiliges Warten, wieder ein Quäntchen Sand… Es schien endlose Zeiten zu dauern, bis die Löcher an den vier Ecken des Sarkophagdeckels Gestalt annahmen. Seine Augen brannten schon, so lange hatte er auf den Drillbohrer gestarrt, und seine Ohren klingelten vom grellen Werkstattlärm. „Wofür sind denn diese Löcher?“, fragte er – eher, um seine Konzentration nicht zu verlieren, als aus wirklichem Interesse.
    „Nun, da kommen die Zapfen rein“, antwortete der Alte. Er deutete auf den Sarkophag in der Ecke des Schuppens. „Siehst du die Erhöhungen an den Ecken, Junge? Sie passen genau in die Löcher. So wird der Deckel befestigt. Es wäre schlecht, wenn der Deckel vom Sarkophag rutschen würde, wenn sie den Wedelträger zu Grabe tragen.“
    Wenn es nach Ranofer gegangen wäre, so hätten der Sarkophag, der Deckel und auch der Wedelträger selbst schon lange unter der Erde sein können, aber er hütete sich, das auszusprechen. Und das war auch gut so, denn als er das letzte Quäntchen Sand

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