Der goldene Kelch
das kann ich dir sagen. Seine Geduld ist nicht größer als mein Daumen.“
Der Alte hob den rechten Daumen. Ranofer sah mit Entsetzen, dass das oberste Glied fehlte. „Tja, der Keil ist abgerutscht, als wir einen Granitblock spalten wollten; das war vor zwanzig Jahren“, sagte er mit einem schiefen Lächeln. „Hier“, er stopfte den Bohrer unter den Arm und hob die andere Hand, „habe ich den Meißel schief gehalten. Und da, da habe ich mit dem Hammer auf meine Finger geschlagen statt auf den Stein. So sehen die Hände von Steinmetzen aus. Schön sind sie nicht, nein, das kann man beim besten Willen nicht behaupten, aber den Göttern sei Dank, sie erfüllen immer noch ihren Zweck. Was willst du denn nun von Pai, Kleiner?“
„Ich muss mich bei ihm melden“, antwortete Ranofer. Er konnte seinen schreckerfüllten Blick einfach nicht von den verstümmelten Händen des Alten nehmen. „Ich bin der neue Lehrjunge.“
„Na, das ist ein wichtiges Anliegen. Dann geh nur! Aber vergiss nicht zu schreien. Pai hasst nichts mehr als Leute, die leise reden.“
„Danke für den Rat, äh, Meister.“
„Ich heiße Djahotep. Ich bin kein Meister, nur ein niederer Geselle. Geh jetzt zu Pai! Ich muss diese Löcher hier bohren oder Pai hängt mich an meiner eigenen Zunge auf!“
Djahotep wandte sich wieder seiner Arbeit zu, Ranofer ging quer durch den Schuppen zu Pai hinüber. Seine nackten Sohlen krampften sich auf dem rauen Teppich aus Steinbröckchen zusammen, der den schmutzigen Boden bedeckte.
Und was ist, wenn meine Hände auch so werden?, dachte er. Dann könnte ich nie wieder Gold bearbeiten, könnte nie wieder mit den kleinen Pinzetten arbeiten, eine feine Naht löten oder die kleinen Goldblätter schlagen. Ich könnte nur noch grobe Arbeiten verrichten und nie mein Geschick in einem kunstvollen Handwerk ausbilden.
Er ging um einen großen, dunkelgrünen Steinblock herum, auf dem zwei Männer gegenüber knieten und ihre Oberkörper rhythmisch vor und zurück bewegten. Mit kleinen Sandsteinblöcken polierten sie die Oberfläche; das schrille Schmirgeln ging Ranofer durch Mark und Bein und verursachte ihm eine Gänsehaut. Er wagte nicht, die Hände der Arbeiter anzusehen. In der hintersten Ecke des Schuppens arbeiteten drei Männer an einem großen Sarkophag aus Rosengranit. Ein Mann spannte einen rot gekalkten Faden als Lineal um den Sarkophag, die beiden anderen schlugen den überstehenden Stein ab. Der Mann, der diese Arbeit überwachte, hatte seine dünnen Arme in die Seiten gestemmt, die Fäuste ruhten auf seinen schmächtigen Hüften, aus einer Faust ragte ein Stock, der ihn als Autoritätsperson auszeichnete. Er war kaum größer als Ranofer, aber er sah aus, als sei er zäh wie Leder und hart wie Stein.
Ranofer schluckte. Schweren Herzens stellte er sich neben ihn und sagte laut: „Entschuldigung, Meister Vorarbeiter – “
„Ja? Was ist? Wer bist du?“, schrie Pai. In einer einzigen schnellen Bewegung drehte er den Kopf und heftete seinen Blick auf Ranofer.
„Ich bin Ranofer, der neue Lehrjunge. Gebu hat mir aufgetragen, mich bei dir – “
„Gebu? Hier wirst du ihn Meister nennen! Du bist also der jüngere Bruder.“
„Halbbruder“, widersprach Ranofer leise. Pai hatte Ranofers Einwand entweder nicht gehört oder er zog es vor, ihn zu ignorieren. Mit Verachtung besah er sich Ranofers schmale Schultern und mageren Arme. Sein Blick blieb an den hervorstehenden Rippen hängen. „Er schickt mir einen solchen Schwächling und erwartet auch noch, dass ich einen Steinmetz aus ihm mache“, sagte er mehr zu sich selbst als zu jemand Bestimmtem. „Steinmetz – pah! Als Rattenfänger oder Blumenbinder würdest du besser taugen! Also los, na, komm schon!“ Gedemütigt und voller Widerwillen folgte Ranofer dem Vorarbeiter zum vorderen Teil der Werkstatt. Pais Schritt war schnell und hüpfend; er schwang seinen Stock und drehte wie ein langhalsiger Raubvogel ruckartig den Kopf nach rechts und links zu den Arbeitern, an denen er vorbeiging. Vor Djahotep blieb er stehen und deutete auf die Kiste mit schwarzem Sand neben der Alabasterplatte.
„Das ist Bohrsand“, schrie er. „Jedes Mal, wenn Djahotep den Bohrer absetzt, schüttest du ein bisschen Sand in das Loch, damit die Bohrerspitze immer tiefer eindringen kann. Wenn ihr damit fertig seid, gebe ich dir eine andere Arbeit.“
Er wirbelte herum und sprang schon wieder ans andere Ende der Werkstatt. Ranofer konnte nur noch nicken. Er blickte
Weitere Kostenlose Bücher