Der goldene Kelch
würde.
6
Ranofer blieb nichts anderes übrig, als am nächsten Morgen zur Steinmetzwerkstatt zu gehen. Also ging er. Wie betäubt trottete er durch die vertrauten Straßen, vorbei am Papyrussumpf, vorbei an den Kais. Mit einem sehnsüchtigen Blick zu der Ecke, wo er immer zu Rekhs Goldhaus abgebogen war, ging er widerwillig weiter. Er fühlte sich wie ein Verräter. Vorbei an Werkstätten, Läden und Lagerhäusern schleppte er sich zu Gebus Steinmetzwerkstatt, einem langen, nach vorne offenen Schuppen, und blieb stehen.
Er war nur ein- oder zweimal hier gewesen, und jedes Mal hatte er diesen Ort so schnell wieder verlassen, wie er nur konnte. Die ganze Straße hallte wider von dem grellen Lärm aus Gebus Werkstatt. Schrill drangen die Meißel in den Stein, klappernd schlugen die Hämmer auf die Meißel, quietschend rieb sich rauer Granit an rauem Granit. Größer könnte der Unterschied zur Melodie der kleinen Goldhämmer nicht sein! Unter dem niedrigen, mit Palmwedeln gedeckten Dach sah er staubbedeckte Männer; sie bewegten sich zwischen Quadern und Steinplatten hin und her, die überall auf dem schmutzigen, staubigen Boden herumstanden. Einer dieser Männer musste Pai sein, der Vorarbeiter, bei dem sich Ranofer vorstellen musste. Zu dieser Jahreszeit war Gebu nur selten in seiner Werkstatt; er und der Großteil seiner Gesellen arbeiteten auf der anderen Seite des Flusses am Ausbau des Amuntempels, den der Pharao in Auftrag gegeben hatte; sie bearbeiteten die Steine und passten sie in die Mauern ein. In der Werkstatt wurden nur große Sarkophage hergestellt und Rohlinge für die Bildhauer zur gewünschten Größe gehauen. Die Bildhauer arbeiteten in eigenen Werkstätten in einem anderen Teil der Totenstadt. Hier wurde nicht graviert, hier traten keine großen Bildnisse der Götter oder des Pharaos langsam und majestätisch aus einem unförmigen Stein. Hier wurden keine Lotosblüten oder Papyruspflanzen auf eine Alabastervase gezaubert, weder Enten, Geier, Körbe noch andere redende Wörter erschienen unter dem Meißel eines geschickten Künstlers auf einer Steinplatte. Wenn Gebu doch wenigstens Bildhauer wäre!, dachte Ranofer. Dann würde ich lernen, etwas Schönes zu formen – nicht aus Gold, sondern aus Stein, aber die Lehre würde sich zumindest lohnen. Nun, es nützte alles nichts. Die Götter und Gebu hatten beschieden, dass er nicht mehr lernen sollte, als Steine zu schlagen und grob zu behauen, damit andere sie weiterverarbeiten könnten. Seufzend überquerte er die Straße. Unter den herabhängenden Palmwedeln blieb er zögernd stehen und spähte in die Werkstatt. Nachdem er aus dem hellen Sonnenlicht herausgetreten war, wirkte das Innere des Schuppens wie in tiefe Dunkelheit getaucht. Ein Dutzend Männer gingen ihrer Arbeit nach, keiner nahm auch nur die geringste Notiz von ihm.
Ein alter Mann hockte gleich vorne am Eingang im Schneidersitz neben einer großen Alabasterplatte. Ranofer sah ihm zu, wie er den Staub aus einem kleinen Loch am Rand der Platte blies und es prüfend betrachtete. Dann stand der Alte auf und humpelte zur anderen Seite der Platte. Aus einer Kiste streute er schwarzen Sand auf eine Stelle, die mit Kreide markiert war, setzte die Spitze des Drillbohrers an und bohrte ein weiteres Loch. Er sah erschöpft aus, wirkte aber geduldig und freundlich. In der Hoffnung, es handle sich um Pai, sprach Ranofer ihn vorsichtig an. „Entschuldigung, Meister…“
Der alte Mann bohrte weiter; er schlug mit seiner knotigen Hand gegen die Steingewichte, damit sie sich um die Treibstange drehten, mit der anderen hielt er den Griff des Bohrers.
„Entschuldigung, Meister…“ Ranofer versuchte, den Lärm im Raum zu übertönen, und berührte den Mann an der Schulter.
Der Bohrer sprang vom Stein, und die Steingewichte hörten auf zu kreisen. Der Mann sah auf; offenbar war er erstaunt, Ranofer zu sehen und nicht einen anderen Mann.
„Was ist? Was willst du, Kleiner? Ich dachte, es sei der Vorarbeiter, der mir sagen wollte, dass ich schon wieder alles falsch mache.“ Das konnte nicht Pai sein. „Ich suche den Vorarbeiter.“
„Was? Du musst lauter reden. Der Lärm…“
„Ich suche den Vorarbeiter“, schrie Ranofer.
„Ah, den Vorarbeiter. Das ist Pai, der kleine, schmächtige Mann da drüben in der Ecke neben den Fertigbearbeitern – aber sag ihm ja nicht, dass ich ihn schmächtig genannt habe! Was willst du denn von ihm? Komm ihm bloß nicht mit irgendwelchen Lappalien,
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