Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
Vom Netzwerk:
an. Schreckliche Wesen mit umgekehrt aufgesetzten Köpfen stahlen und verhexten Kinder, denen die Mütter kein Amulett ums Handgelenk gebunden und den Bann der Nacht nicht gebrochen hatten. Nichts konnte so wichtig sein, dass Gebu sich all dem ausgesetzt hätte. Was hatte dieses Geräusch also zu bedeuten? Eine flüchtige Erinnerung erwachte in Ranofer. Er zerbrach sich den Kopf und bekam schließlich einen Gedankenfetzen zu fassen. In der Nacht, bevor er Gebu den letzten Weinschlauch brachte, hatte er dasselbe leise Geräusch gehört. Am nächsten Morgen war er mit einem Plan im Kopf erwacht und hatte gedacht, die Schwingen von Vaters Ba hätten ihn geweckt. Ob Vaters Ba heute Nacht zurückgekommen war? Er hätte es gerne geglaubt, aber es war unwahrscheinlich. Vielleicht hatte er auch in jener Nacht nur Gebus Tür gehört, und es war gar nicht Vaters Ba. Außerdem war er ihm ja auch keine große Hilfe gewesen. Er hatte zwar den Plan gehabt, und der Plan hatte auch funktioniert, aber das ganze Unglück, das darauf gefolgt war… Vater konnte nicht gewusst haben, dass so etwas Schlimmes passieren würde, sagte er sich schnell. Er versuchte, mir zu helfen, und er hat mir ja auch geholfen. Alles Weitere war Gebus Schuld. Und gewiss ist er auch heute gekommen, um mir zu helfen. Sicherlich wache ich morgen früh wieder mit einem Plan im Kopf auf. Am Morgen war jedoch alles wie immer. Es hatte sich kein Wunder ereignet, es gab keinen Plan, es gab keine neue Hoffnung.
    Eine Woche später wurde Ranofer wieder von diesem unheimlichen Knarzen geweckt. Dieses Mal war es eindeutig Gebus Tür. Ranofer setzte sich auf und hielt den Atem an; kalt lief es ihm den Rücken hinunter, er schauderte. Nach dem Stand des Mondes zu urteilen war es Mitternacht. Er hörte leise Schritte auf der Stiege und auf den Steinplatten, er hörte das leise Knirschen des Tores, das geöffnet wurde, und das sanfte Klicken des Riegels, als es sich wieder schloss. Das war nicht Vaters hilfsbereiter Ba – ausgeschlossen! Ranofer schnaubte entsetzt. Unglaublich! Gebu war nicht nur einmal, sondern gleich dreimal in die dunkle, unheimliche Welt der Dämonen hinausgegangen. Wohin ging er zu dieser Stunde, da alle vernünftigen Menschen im Bett waren? Warum? Warum nur?
    Doch Ranofer bekam keine Antwort auf diese Fragen, die er sich immer wieder aufs Neue stellte, wenn sich das geheimnisvolle nächtliche Spiel in unregelmäßigen Abständen wiederholte. Gebu fragte er natürlich nicht – da hätte er sich gleich selbst den Krokodilen zum Fraß vorwerfen können. Nach einiger Zeit hörte er die Tür immer seltener, vielleicht schlief er auch besser und tiefer, nachdem seine Muskeln abgehärtet waren und die Arbeit ihn weniger anstrengte. Wie auch immer – er legte das Ganze als ungeklärten Fall in einer hinteren Kammer seines Gedächtnisses ab. Es war eben noch eine von Gebus Angelegenheiten, die er nicht verstand.

7
     
     
     
    Die kalten Wintertage gingen zu Ende. Das Gesicht Ägyptens änderte sich im Einklang mit dem Rhythmus des Nils, jenes wunderbaren Flusses, der dem langen Tal, das er wässerte, jedes Jahr neues Leben und neuen Reichtum schenkte. Im Herbst trat der Nil über seine Ufer und überzog die Felder mit einer silbernen Flut. Inseln verschwanden, Menschen und Tiere mussten sich über ein Geflecht aus Dämmen und Stegen bewegen. Im Winter zog sich das Wasser dann wieder zurück und hinterließ eine dicke, schwarze Schlammschicht, die so fruchtbar war, dass es in Ägypten zwei Ernten gab, während andere Länder mit knapper Not gerade eine Ernte einbringen konnten. Das Getreide keimte, spross und wuchs und bedeckte die schwarze Erde mit smaragdgrünen Halmen, die schließlich unter der heißen Sonne golden heranreiften, während der Flusslauf langsam schmäler wurde.
    Es war Erntezeit. Alle verfügbaren Männer gingen auf die Felder, um das goldgelbe Korn und das Stroh einzubringen. Unter den Sicheln der Erntearbeiter entstanden Stoppelfelder, durch die die schwarze Erde wieder hervorschien; nun war der Boden nicht mehr feucht und fruchtbar, er war hart und ausgedörrt und riss unter der sengenden Sonne. Die Risse verwandelten sich schließlich in tückische, oft sechs bis zehn Ellen tiefe Erdspalten, die so breit waren, dass ein Mensch leicht seinen Fuß einklemmen konnte. In dieser Zeit stand der Tempelbau still, um mehr Männer für die Ernte einsetzen zu können. Entsprechend oft änderten sich auch die Gesichter in der

Weitere Kostenlose Bücher