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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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als dass er sich hätte entspannen oder gar schlafen können. Er saß einfach ermattet auf einem Quader und sah teilnahmslos zu, wie sich Gebu mit Pai besprach oder durch den Schuppen marschierte und prüfte, ob die Arbeit Fortschritte machte. Manchmal ging Gebu in einen Lagerraum am hinteren Ende des Schuppens und holte zerfetzte Papyrus- oder grobe Leinenrollen. Er suchte eine Rolle heraus und zeigte sie Pai begleitet von brummigen Befehlen. Hin und wieder brachte er einen neuen Mann mit oder er nahm Männer mit zum Tempel und schickte andere zurück in die Werkstatt. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, und Ranofer gab es auf, sich alle Gesichter merken zu wollen.
    Gelegentlich kam Gebu in Begleitung von Wenamun, dem Mann mit den unheimlichen blauen Augen; dann saßen die beiden zusammen und beugten sich über irgendeine Leinenrolle. An diesen Tagen versuchte Ranofer, sich so klein wie möglich zu machen, denn wie immer beim Anblick dieser hageren Gestalt mit den gebeugten Schultern, die leise schlich wie eine Katze, in diesem langen, schwarzen Umhang aber aussah wie ein Geier, der sich mauserte, lief es Ranofer eiskalt den Rücken hinunter. Aber weder Wenamun noch Gebu schenkten ihm die geringste Aufmerksamkeit. Sogar zu Hause benahm sich Gebu so, als habe er vergessen, dass sein Halbbruder auch noch existierte. Bevor Gebu morgens den Hof verließ, trat er Ranofer in die Seite, damit er aufwachte, warf ihm eine Münze hin, damit er sich Brot kaufen konnte, oder zeigte mit dem Daumen auf die Vorratskammern, wenn er etwas zu essen übrig gelassen hatte. Am Abend sammelte Gebu dann den kargen Lohn ein, den Pai dem Jungen am Ende eines langen Tages ausbezahlte. Abgesehen von ein paar wütenden Ohrfeigen, mit denen Gebu seine schlechte Laune abreagierte, oder ein paar spöttischen Bemerkungen, mit denen er seine gute Laune noch verbesserte, nahm er von Ranofer keinerlei Notiz. Ranofer war dankbar, dass er es Gebu mit gleicher Münze vergelten konnte. Wenigstens muss ich nicht mehr für ihn stehlen, sagte er sich in so mancher Nacht, während er auf seiner löchrigen Matte lag und zusah, wie der Mond über den Himmel glitt und das Mondlicht sich in den Ästen der Akazie verfing. Großer Amun, bitte lass mich so groß werden wie Gebu, mach, dass ich eines Tages frei bin und wieder zurückgehen kann ins Goldhaus. Mach, dass ich in meinem ganzen Leben nie, nie wieder einen Granitblock sehen muss!
    Doch jeden Tag musste er den Stein von neuem sehen. Seine Muskeln stählten sich nur langsam an der groben Arbeit, denn täglich wurden sie über die Maßen und über ihre Kräfte beansprucht. Der Muskelkater und der pochende Schmerz störten seinen Schlaf und ließen ihn schlecht träumen.
    Doch eines Nachts erwachte er nicht an seinen Schmerzen, sondern an einem Geräusch. Wahrscheinlich waren es die knarzenden Lederangeln von Gebus Tür. Bei Tag nahm er das Geräusch kaum wahr, in der dunklen Nacht aber war es unheimlich. Er stützte sich auf den Ellbogen, horchte und wartete mit klopfendem Herzen auf Gebus Schritt auf der Stiege, denn er fürchtete, Gebu könnte kommen und ihn für irgendeinen Fehler bestrafen, den er gemacht hatte. Aber Gebus Schritte blieben aus, alles war still. Verwundert legte er sich wieder hin. Hatte er sich verhört? Oder war Gebu gar nicht aus seinem Zimmer gekommen, sondern erst heimgekehrt? Aber wo sollte er herkommen um diese Zeit? Es war bestimmt schon spät, so spät kam Gebu nie von den Schänken am Ufer zurück, außerdem war er heute Abend schon aus gewesen. Wenn die Tür nun geknarzt hatte, so musste er ein zweites Mal weggegangen sein und war ganz gegen seine Gewohnheit, das Tor zuzuschlagen und lärmend über den Hof zu stolpern, so leise, wie es sein massiger Körper zuließ, die Stiege hinauf und in sein Zimmer geschlichen. Die ledernen Angeln hatten auch nur ganz leise geknarzt, als ob Gebu die Tür vorsichtig zugedrückt hätte, als ob er verhindern wollte, dass Ranofer etwas von seiner Abwesenheit bemerkte. Komisch, dachte Ranofer und legte sich auf den Bauch, um weiterzuschlafen. Aber er schauderte. Unheimlich war das! Zu dieser Stunde beherrschten die Kheftiu und das geheimnisvolle Dunkel die Welt, das wusste schließlich jeder. Die Bau der Toten flatterten aus den Gräbern und flogen über das in Dunkelheit gehüllte Land zu den Orten, die ihnen im Leben vertraut gewesen waren. Die bösen Geister der Unbegrabenen streiften nach Lust und Laune herum und richteten allerlei Unheil

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