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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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Steinmetzwerkstatt. Nur die erfahrensten Gesellen und die Lehrjungen bearbeiteten weiterhin den Stein. Gebu kam und ging, war aber gewöhnlich ein paar Stunden am Morgen oder am Nachmittag in der Werkstatt, um die Arbeit persönlich zu überwachen oder um selbst mit den Gesellen zu arbeiten.
    Ranofer stellte fest, dass die Anwesenheit des Meisters das an sich schon sehr scharfe Auge des Vorarbeiters noch mehr schärfte und Pai seine ohnehin nicht sehr große Geduld fast gänzlich verlor. In diesen Tagen unter Pais Aufsicht zu arbeiten bedeutete, in einem Schwarm wütender Bienen gefangen zu sein, die sich unablässig summend und brummend mit ihrem Stachel auf einen stürzten. Die einzige Erholung von dieser ganzen Qual, die nach Meinung Ranofers mehr Fehler verursachte, als sie ausmerzte, war die Mittagspause. Ranofer hatte sich angewöhnt, jeden Mittag die Werkstatt zu verlassen, um Pai nicht mehr sehen und sein Gebrüll eine Weile nicht mehr hören zu müssen. Er wanderte durch die Straßen, bis sein Schatten auf dem staubigen, heißen Boden die Richtung änderte und ihm anzeigte, dass es nun an der Zeit war, umzukehren und sich wieder dem endlosen Behauen der rohen, roten Granitplatte zu widmen, die einmal eine Seite des äußeren Sarkophags für einen Hohen Priester darstellen würde.
    Eines Mittags, vierzig lange und schreckliche Tage nach dem Beginn seiner Lehrzeit, trugen ihn seine Füße ganz von selbst in die Straße der Goldschmiede. Er ging den vertrauten Weg, bis er nur noch einen Steinwurf entfernt vor Rekhs Goldhaus stand. Bisher hatte er sich nicht dorthin getraut. Als er vor dem einladenden Tor stand, stieg eine große Sehnsucht in ihm auf, und er wusste, es war ein Fehler, hierher zu kommen. In Erinnerungen schwelgend stand er da und starrte auf das vertraute Tor, bis sein Schatten hinter ihn kroch und die Sonne heiß auf seine nackten Füße brannte.
    Er eilte zurück und wäre fast mit einem Jungen zusammengestoßen, der gerade aus dem Lehrlingshaus gelaufen kam. Ranofer schaute geradewegs in das erstaunte Gesicht seines Freundes Heqet.
    „Ranofer!“, rief er aus und lächelte herzlich übers ganze Gesicht.
    „Grüß dich, Heqet!“, erwiderte Ranofer, wich aber verlegen einen Schritt zurück. Niemand sollte ihn so sehen. Wie ein streunender Hund hatte er sich vor Rekhs Goldhaus herumgetrieben! Der Steinstaub überzog seine Haut wie ein Sklavenmal, die zwei blutgetränkten Fetzen, die er um die Finger seiner linken Hand gebunden hatte, verrieten, wie tief er gefallen war. Er war nicht mehr der aufstrebende Goldarbeiter, der trotz seines Gehilfenstatus einem Lehrjungen etwas beibringen konnte. Er war nur noch ein ungeschickter Nichtsnutz.
    Heqet würde ihm inzwischen in Wissen und Geschicklichkeit weit voraus sein, Ranofer würde ihm nichts mehr zu bieten haben. Er versteckte die Hände hinter seinem Rücken und scharrte mit den Zehen im Staub. Heqet tat das Gleiche. Verlegenheit war ansteckend. „Na?“ Heqet versuchte, ungezwungen zu klingen. „Du bist ja ein ganz Fremder – sagte die Raupe zum Schmetterling.“
    Ranofer musste unweigerlich lächeln und begegnete Heqets freundlichem und fragendem Blick. Die Verlegenheit wich der Vertrautheit.
    „Tja. Ich bin Lehrjunge beim Steinmetz. Ich erkenne mich selbst auch nicht mehr wieder – und ich will es auch gar nicht“, fügte er hinzu und spuckte verächtlich auf die Straße.
    „Macht es dir keinen Spaß?“
    „Ich hasse diese Arbeit.“
    Heqet sagte nichts. Ranofer konnte es ihm nicht verdenken. Was sollte er darauf auch sagen? „Und du?“, fragte Ranofer schnell. „Wie geht es bei Rekh?“
    „Ganz gut. Ich kann inzwischen Draht ziehen, und Sata bringt mir gerade löten bei.“
    Nun sagte Ranofer nichts mehr. Satas Gesicht tauchte einen Augenblick vor seinem geistigen Auge auf. Selbst mit seiner düsteren Miene, die ihm Ranofer zögerlich, aber dennoch in seiner Erinnerung hinzufügte, sah Sata verglichen mit Pai so gütig aus wie ein Vater. Der Gedanke an Pai schob sich vor Satas Gesicht. Schuldbewusst sagte Ranofer: „Es ist schon nach Mittag.
    Ich muss mich jetzt beeilen, sonst zeigt mir der Vorarbeiter wieder seinen Stock.“
    „Aber warte doch! Wir haben ja kaum miteinander gesprochen!“
    „Ich weiß. Ich wünschte, alles wäre anders.“
    „Kannst du denn nicht wiederkommen?“
    „Nein, ich…“, Ranofer schielte zum Goldhaus und wandte seinen Blick schnell wieder ab. „Nein, ich kann nicht mehr hierher

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