Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
Vom Netzwerk:
und brachte das Feuer wieder zum Flackern. Mit einer Zange hielt er einen Teil des Halskragens vorsichtig unter den heißen Luftzug. Sein sehniger, brauner Handrücken glühte im Widerschein des Feuers. Das Thema schien beendet. Aber alles in Ranofer sträubte sich so heftig gegen diese Tatsache, dass er fieberhaft nachdachte und schließlich eine Lösung fand.
    „Meister!“, rief er aus. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er zu Djau getreten war und sich neben ihn gestellt hatte. „Meister, ich arbeite nur tagsüber in der Steinmetzwerkstatt. Gebu ist nachts oft aus und kommt meist erst sehr spät zurück.“ Selbst in seiner Aufregung schoss ihm die Frage durch den Kopf: Wohin geht er? Er fuhr sich eifrig mit der Zunge über die Lippen und fuhr fort: „Ich könnte nachts kommen und lernen, wenn ich darf.“ Djau legte das Lötrohr zur Seite und streckte sich. „Das geht nicht. Meinst du etwa, ich arbeite Tag und Nacht? Ich bin kein Gott, ich bin ein alter Mann und muss meine alten Knochen schließlich auch einmal ausruhen.“
    „Aber – “
    „Sohn meines alten Freundes, du musst einsehen, dass ich im Moment nichts für dich tun kann. Du musst erst deine Lebensumstände ändern, dann kannst du zu mir kommen und bei mir lernen.“
    Ranofer begriff, so schwer es ihm auch fiel. Nach einer Weile sagte er leise: „Danke, Meister, ich habe begriffen.
    Ich werde alles tun, was ich kann, um mein Leben zu ändern.“
    Der alte Mann nickte verbindlich und ging mit dem Halskragen zu einem der hinteren Schuppen. Ranofer ging langsam zum Tor zurück. Dort wartete Heqet mit dem Pflock; Ranofer hatte ihn ganz vergessen. Heqets Augen waren weit aufgerissen vor Bewunderung. Offenbar hatte er jedes Wort gehört. Schweigend hoben die beiden den schweren Pflock an und trugen in zusammen durch die verlassenen Straßen, der rote Glanz wich langsam der grauen Dämmerung. Sie mussten nicht sprechen, jeder wusste, was der andere dachte. In der Straße der Goldschmiede, an deren Ende Rekhs Goldhaus und das Lehrlingshaus standen, blieb Ranofer stehen und fragte mit einem Blick auf das vertraute Tor: „Musst du den Pflock ins Goldhaus bringen?“
    „Ja.“
    „Ist Rekh da?“
    „Ja, er wollte auf mich warten.“ Heqet hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Ich kann den Pflock jetzt alleine tragen. Du musst nicht mitkommen.“ Ranofer warf ihm einen dankbaren Blick zu und nickte; er war erleichtert, dass er seinem Freund nichts erklären musste. Er hatte das Goldhaus nicht mehr betreten und Rekh nicht mehr gesehen, seit er an jenem Tag vor vielen Monaten so plötzlich verschwinden musste, an jenem Tag, als auch Ibni plötzlich verschwand. Er war sich zwar sicher, dass Rekh ihn nicht mit dem Diebstahl in Verbindung brachte, aber er hatte das Gefühl, dass der Ruch der Dieberei an seinem Namen haftete, und wollte nicht riskieren, dass Rekh ihn enttäuscht und geringschätzig ansah; er würde vor Scham im Boden versinken. Und wenn Rekh so war wie immer, nett und um sein Wohlergehen besorgt – das wäre noch schlimmer, weitaus schlimmer sogar. Heute, gerade heute würde es ihn umbringen, wenn jemand nett zu ihm wäre. Heqet hievte den Pflock auf die Schulter. „Kommst du morgen Mittag an unseren Platz?“
    „Ja, klar.“
    Schweigend trennten sich die Jungen. Heqet stapfte die staubige Straße hinunter zum Goldhaus, Ranofer machte sich auf seinen langen Heimweg. Die Anlegestelle der Fährboote lag hoch über dem Fluss, der sich weit in sein Bett zurückgezogen hatte, die Fähren waren weit draußen in einem Schlammbecken vertäut – ein ungewohnter Anblick. Erst am Kai merkte Ranofer, wie müde er war und wie spät es über der Unterhaltung mit Djau geworden war. Wenn Gebu zu Hause auf ihn wartete und immer wütender wurde, je länger er warten musste… Ranofer beschleunigte seinen Schritt, obwohl er erschöpft war und alle seine Glieder schmerzten. Ich kann mich später ausruhen, dachten er, je früher ich nach Hause komme und Gebu mein Kupfer geben kann, desto –
    Er blieb stehen. Er hatte kein Kupfer. Aus Angst, Pai hätte ihn mit irgendeiner unwichtigen Arbeit aufhalten können, war er gleich nach der Arbeit aus der Werkstatt geflitzt, er hatte an nichts anderes gedacht als an Djau und hatte darüber ganz vergessen, die Bezahlung abzuwarten. Erst jetzt fiel es ihm wieder ein.
    Bestürzt stand er mitten auf der dämmrigen Straße. Wie hatte er das nur vergessen können? Aber andererseits, warum hätte er auch daran denken sollen?

Weitere Kostenlose Bücher