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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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unter seinen nackten Füßen, der so anders war als der raue, steinige Boden der Steinmetzwerkstatt. Die vertraute und geliebte Atmosphäre des Goldhauses trat jedoch in den Hintergrund, als sie sich dem strengen alten Mann näherten, der auf einen Ellbogen gestützt an der Werkbank lehnte; in seiner geschmeidigen, sehnigen Hand mit den langgliedrigen Fingern baumelte ein kleiner Kupferhammer. Ranofer konnte sich noch gut an Djaus Hände erinnern und auch an das breite Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den dünnen Brauen und den vollen, geschwungenen Lippen, allerdings hatte er vergessen, wie streng der Meister war und dass er früher immer seinen ganzen Mut zusammennehmen musste, um den Mund aufzumachen, selbst wenn Djau eine Frage an Ranofer gerichtet und sein Vater neben ihm gestanden hatte.
    Warum hatte ich eigentlich Angst, dass ich drauflosplappern könnte wie ein Irrer?, fragte sich Ranofer. Ich krieg ja nicht mal den Mund auf! Wie konnte ich nur denken, dass ich den Mut hätte, den großen Meister anzusprechen – ich, ein Niemand, ein lumpiger Steinmetzjunge? Seine Zunge war wie angeleimt, er fühlte sich völlig fehl am Platz. Djau befahl Heqet, zum hintersten Schuppen zu gehen und den Pflock aus dem Schrank zu holen. Heqet verbeugte sich und tat, wie ihm geheißen. Als er weg war, blickte Djau zu Ranofer. Einen Augenblick lang, der Ranofer vorkam wie eine halbe Ewigkeit, sah er ihn unverwandt an. Er wollte sich schon wieder abwenden, zögerte dann aber und zog seine dünnen Augenbrauen fragend zusammen. „Kenne ich dich nicht?“
    Ranofer schluckte zweimal, bevor er seine Stimme wieder fand. „Doch, Meister. Das heißt, du kanntest meinen Vater.“
    „Deinen Vater? – Ja, natürlich, du bist Thutras Sohn. Thutra, mein dahingegangener Freund… Mögen seine Dreitausend Jahre voller Freude sein.“
    „So Amun will!“, sagte Ranofer. „Thutras Sohn. Wie heißt du?“
    „Ranofer, Meister.“
    „Ranofer. Ich erinnere mich. Wie geht es dir, Ranofer? Du bist bestimmt Lehrjunge in einem Goldhaus.“
    „N-nein, ich… ich bin Lehrjunge bei meinem Halbbruder, bei Gebu, dem Steinmetz.“
    „Steinmetz?“ Djau hob erstaunt die Augenbrauen. „Komisch! Ich dachte, du interessiertest dich für die Goldschmiedekunst. Aber ich werde langsam vergesslich.“ Er verlor das Interesse an Ranofer und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
    Aber natürlich war ich interessiert und bin es immer noch!, wollte Ranofer rufen. Aber er brachte keinen Ton heraus. Er starrte auf Djaus Rücken. Warum hatte er das nur gesagt? Er hätte sich ohrfeigen können. Ich habe alles verpatzt! Ich hätte ihm erst alles erklären sollen! Da fiel sein Blick auf die Goldarbeit auf Djaus Werkbank, und er vergaß all seine Selbstvorwürfe. Es war ein Halskragen aus feinen Ketten, die durch unzählige goldene Bienen verbunden waren, jede Biene war fantasievoll und wunderschön geformt und kunstvoll gearbeitet. Unweigerlich zog es ihn zu dem Schmuck. Neben Djau blieb er stehen, beim Anblick des Meisterwerks entfuhr ihm ein bewunderndes „Oh“. Djau sah auf. Er folgte Ranofers fasziniertem Blick. „Ein Auftrag vom Palast“, erklärte er. „Ein Geschenk des Pharaos für seine Große Geliebte. In sechzig Tagen, beim großen Nilfest zum Kommen des Hapi wird es Teje um ihren schönen Hals tragen. Bis dahin muss es fertig sein.“
    Er nahm einen kleinen Hammer und bearbeitete die Flügelspitze einer goldenen Biene, die in Ranofers Augen schon vollendet schön war. Beim Anblick der schmalen, flinken Hände des alten Meisters rieb er sich unweigerlich die Hände. Sie fühlten sich rau an vom Steinstaub, schrundig und grob.
    „Könnte ich doch nur lernen, solche Dinge zu formen!“, flüsterte er.
    Djau hielt inne, der Hammer verweilte in der Luft; er warf Ranofer über die Schulter hinweg einen durchdringenden Blick zu, drehte aber gleich wieder den Kopf und schlug mit dem Hammer auf den goldenen Flügel. „Dafür ist eine Steinmetzwerkstatt kaum der richtige Ort.“
    Ranofer wollte alles erklären. Er nahm all seinen Mut zusammen. „Es war nicht mein Wunsch, Meister, Gebu wollte es so. Ich habe bei Rekh gearbeitet, dann hat Gebu mich geholt.“ Nur gearbeitet, nicht gelernt!, dachte er grimmig. Er durfte jetzt nichts Falsches sagen. „Er hat mich geholt, weil… weil ich…“ Er schluckte. Es war bestimmt nicht gut, den Golddiebstahl und den Namen des Diebs vor einem Goldschmied zu erwähnen. Djau würde denken, er, Ranofer, hätte das Gold

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