Der goldene Kelch
Geschrei.
„Ich hab’s doch gesagt! Der Sarkophag ist zu breit. Siehst du das denn nicht, du Idiot?“, brüllte er Pai an. „Sollen die etwa kurz vor dem Begräbnis den Gang im Grab breiter machen?“
„Man kann den Sarkophag problemlos schmäler machen“, gab Pai beleidigt zurück.
„Dann mach ihn schmäler! Und in Zukunft tust du, was ich sage, oder ich suche mir einen anderen Vorarbeiter!“
Gebu rauschte mit einem Seitenblick auf Ranofer vorbei, Pai ihm nach. Die Rolle warf er Ranofer im Vorbeigehen vor die Füße. Ranofer kletterte von seinem Quader und wollte die Rolle ins Lager zurückbringen, da sah er Pai am Zahltisch. Er gab Gebu Ranofers Kupfer vom vergangenen und auch vom heutigen Tag. Er fürchtet wohl, ich könnte meinen Lohn auch heute vergessen, dachte Ranofer auf dem Weg ins Lager. Dieser verfluchte Gebu! Was ist ihm an meinem Lohn so wichtig? Hauptsache, ich bekomme ihn nicht! Wenn ich doch nur mein Kupfer behalten könnte, dann könnte ich sparen und eines Tages einen Esel kaufen. Gebu braucht die Kupfermünzen nicht. Zurzeit stolziert er mit feinen Kopftüchern und neuen Sandalen herum. Er hat jetzt zwei Paar Sandalen. Zwei! Ein Paar hat sogar Schnallen – wie die von einem Richter! Und dann isst er fast jeden Tag Fisch oder gepökelte Ente. Die ganze Vorratskammer riecht danach. Und immer stinkt Gebu nach Wein oder Gerstenbier!
Erstaunt hielt Ranofer inne. Er merkte, dass er immer noch mit der Rolle in der Hand im Lager stand… Gebu war offenbar in letzter Zeit zu Vermögen gekommen. Die Sandalen, die neuen Kleider aus feinem Leinenstoff… Und dann roch er nicht nur nach Gerstenbier, sondern auch nach teuren Salben. Bisher hatte er das gar nicht richtig beachtet, nun aber fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Das kann nicht an meinem Kupfer liegen, dachte Ranofer.
Vielleicht hat der Wedelträger viel Geld für den Rosengranitsarkophag mit dem Alabasterdeckel bezahlt. Oder der Pharao hat die Steinmetze fürstlich für den Ausbau des Tempels belohnt. Wie soll dieser Teufel sonst so plötzlich zu Wohlstand gekommen sein? Es sei denn… Es sei denn, er stahl.
Noch während Ranofer dieser Gedanke durch den Kopf schoss, war er sich auch schon sicher, dass das die Antwort war. Er erinnerte sich an Gebus Bemerkung: „Der mit seinen ärmlichen Weinschläuchen! Es gibt weitaus größere Fische als Rekh, den Goldschmied.“ Damals konnte er sich darauf keinen Reim machen, nun aber war ihm alles klar. Gebu bestahl einen anderen Goldschmied, und bestimmt hatte er inzwischen einen besseren und ungefährlicheren Weg gefunden. Dann brauchte er den Babylonier nicht mehr, deshalb war ihm Ibnis Entlassung egal gewesen! Er hatte die andere Sache bestimmt schon damals am Laufen.
Ranofer warf die Rolle ins Regal und eilte zurück zu seiner Arbeit. Gestern war seine Hoffnung fast zunichte gewesen, nun keimte sie wieder in ihm auf. Wenn er Gebu auf die Schliche käme, würde er auch Beweise gegen ihn finden. Und Zeugen. Dieses Mal würde Gebu nicht davonkommen, denn Ranofer hatte nun Freunde, die ihm helfen würden. Er hatte nicht nur Heqet, er hatte auch den Alten.
Er konnte kaum erwarten, dass es Mittag würde. In der Pause rannte er ohne Rücksicht auf seine Schmerzen und auf andere Passanten zum Fluss. Er kam als Erster bei der kleinen grünen Laube an. Während er ungeduldig auf die anderen wartete, spürte er wieder den brennenden Schmerz auf seinem Rücken und stöhnte auf. Kurz darauf kamen Heqet und der Alte den schattigen Pfad entlang. Sie sprachen leise miteinander, der Esel mit den sanften Augen trottete hinter ihnen her. Ranofer vermutete, dass Heqet dem Alten erzählte, was gestern bei Djau vorgefallen war, und ihn darauf vorbereitete, dass Ranofer vielleicht sehr bedrückt sein könnte. Sie waren beide überrascht, als Ranofer aufsprang und sie durch die Gräser in die kleine Lichtung zog. Er drängte sie, sich zu setzen und zuzuhören. „Gebu hat dich wieder geschlagen“, stellte Heqet mit einem Blick auf Ranofers Rücken fest. „Ja. Ich habe gestern Abend mein Kupfer vergessen. Das war aber gut so – mir ist da nämlich etwas aufgefallen. Hört zu!“
Ranofer sprudelte los – Gebus Sandalen, die neuen Kleider, die Salben, die Bemerkung, die er vor einigen Monaten Wenamun gegenüber gemacht hatte. Heqet und der Alte teilten wie üblich das Essen in drei Portionen, während sie aufmerksam zuhörten. Heqets Gesicht wurde ganz rot vor Aufregung, er konnte kaum sitzen
Weitere Kostenlose Bücher