Der goldene Kelch
Da er immer seinen ganzen Lohn abgeben musste, interessierte er sich nicht für das Kupfer. Wenn ich doch nur meinen Lohn behalten könnte, dachte traurig.
Aber das durfte er nicht. So war das eben, und wie die Dinge lagen, war das im Moment schlimm genug. Er konnte doch nicht die ganze Nacht hier auf der Straße stehen, er konnte sich aber auch leicht vorstellen, was passierte, wenn er mit leeren Händen nach Hause kam. Was soll ich ihm nur sagen? Ranofer eilte verzweifelt nach Hause. Ich kann doch nicht sagen, dass ich es einfach vergessen habe. Das wird Gebu nicht glauben. Er wird mich verprügeln, weil ich gelogen habe. Und wenn er es glaubt, wird er mich aus Wut verprügeln. Dann wird er wissen wollen, wo ich so lange war, was ich getan habe und warum… Ich kann nicht so viele Ausreden erfinden. Entweder ich sage die Wahrheit oder gar nichts.
Als er in die Straße zum Krummen Hund einbog, hatte er sich noch immer nicht entschieden. Unmöglich! – Er könnte weder die Wahrheit sagen noch könnte er schweigen. Er blieb stehen, um nachzudenken. Es half nichts, er konnte das Unvermeidliche nicht vermeiden. Erschöpft, aber gelassen stapfte er die dunkle Gasse hinunter und betrat den schäbigen Hof. Er war leer. Vielleicht geschieht heute ja ein Wunder! Ranofer lehnte sich keuchend ans Tor. Vielleicht hatte Gebu heute nicht auf ihn gewartet. Vielleicht hatte er gar nicht an das Kupfer gedacht. Vielleicht war er ausgegangen und blieb lange, lange weg, vielleicht sogar die ganze Nacht, und würde nie erfahren, dass ich meinen Lohn nicht hatte. Er würde mir keine Fragen stellen und er würde nicht erfahren, dass ich bei Djau war.
Die Tür von Gebus Zimmer schlug laut knarzend gegen die Wand. Wütend polterte er die Stiege herunter. Nein, heute Nacht würde kein Wunder geschehen.
9
Am nächsten Morgen schleppte sich Ranofer zur Arbeit. Jeder Muskel schmerzte, die Striemen auf seinem Rücken brannten wie Feuer. Wie erwartet hatte ihm Gebu die halbe Wahrheit nicht geglaubt, nämlich dass er einfach vergessen hatte, seinen Lohn entgegenzunehmen. Die ganze Wahrheit hätte ihn vielleicht überzeugt, aber Ranofer wollte ihm auf keinen Fall erzählen, dass er bei Djau gewesen war. Der Junge hatte für sein hartnäckiges Schweigen einen hohen Preis bezahlt, aber lieber bezog er Prügel, als dass er vor Gebu sein Innerstes nach außen kehrte und seinen sehnlichsten Wunsch Gebus Hohn preisgab. Er hätte ihn nur verächtlich gemustert und seine ganze Hoffnung, die nach dem Gespräch mit Djau ohnehin sehr geschrumpft war, vollends zunichte gemacht.
Am Vormittag kam Gebu in die Werkstatt. Er knurrte Pai an, inspizierte die Arbeiten und trampelte schlecht gelaunt durch den Schuppen, sodass die Arbeiter sich noch tiefer über ihre Meißel und Bohrer beugten und jedes Gespräch verstummte. Ranofer polierte einen Quarzitblock mit Sandstein; er traute sich nicht aufzusehen, als Gebu ein paar Schritte entfernt neben einem halb fertigen Sarkophag stehen blieb. Er hatte das Gefühl, seine Haut würde sich zusammenziehen und ihn schrumpfen lassen, um die Entfernung zwischen ihm und seinem Halbbruder zu vergrößern, doch er hörte trotzdem die Stimmen von Gebu und Pai, die schließlich so laut stritten, dass sie das Klopfen und Klappern im Schuppen übertönten. „He, du! Ranofer!“, brüllte Pai plötzlich. Ranofer legte den Sandstein zur Seite und sah ängstlich auf.
„Hol den Plan vom Grab des Richters, die Papyrusrolle unten im Regal. Los, beeil dich!“
Ranofer lief so schnell zum Lager am anderen Ende des Schuppens, wie es seine schmerzenden Beine zuließen. Auf dem untersten Regalbrett lagen fünf Rollen. Er entrollte eine nach der anderen; vor lauter Eile war er ganz fahrig. Da er oft für Pai Rollen holen musste, war er inzwischen einigermaßen vertraut mit, diesen Zeichnungen; am Anfang aber waren sie für ihn nur unverständliches Gekritzel gewesen. Die Grabpläne sahen alle ähnlich aus, er konnte sie jedoch auf Grund bestimmter Einzelheiten auseinander halten. Das Grab des Richters hatte den schmälsten Eingang und nur zwei Seitenkammern neben der Grabkammer. Der fünfte Plan war schließlich der, den er suchte. Er schnappte die Rolle und lief zu Pai, der sie ihm aus der Hand riss, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Ranofer war froh, dass Pai keine Notiz von ihm nahm. Erleichtert, ohne Züchtigung davongekommen zu sein, machte er sich wieder an die Arbeit. Da hörte er plötzlich Gebus wütendes
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