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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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der Pfad und führte hinunter ins Tal der Könige.
    Ranofer blieb einen Augenblick stehen und warf einen Blick zurück auf die Stadt. Da wurden gerade sieben rote und weiße Wimpel über den Palastmauern gehisst, auch die Fanfarenstöße waren schwach zu hören. Das Fest wurde eröffnet. Bald würde die große Prozession an den Toren des Amuntempels auf der anderen Seite des Flusses beginnen. Am Mittag würde der Pharao aus dem Palast kommen, um den ersten Kanal selbst zu öffnen, die Straßen von Theben stünden voller Tische, die unter der Last der Speisen fast zusammenbrachen, ganz Theben würde auf den Beinen sein und bei Gerstenbier fröhlich feiern. Und er war nicht dabei! Vielleicht würde er nie wieder dabei sein. In jener Minute wünschte sich Ranofer nichts sehnlicher, als in der Straße zum Krummen Hund zu sein, ja selbst in der Steinmetzwerkstatt wäre er lieber gewesen als hier, und er hätte sogar liebend gerne einen Granitblock poliert oder einen Sarkophagdeckel behauen. Er biss die Zähne zusammen, wandte seinen Blick brüsk von der Stadt ab und machte sich auf den Weg, den steinigen Pfad hinunter in eine Welt, die nur von Toten bewohnt war. Vor ihm erstreckte sich eine Ödnis mit schimmernden roten Hügeln aus Sand und Felsbrocken, die ein Riese dort verstreut haben musste; es war trostlos, trocken und gespenstisch still, nirgends auch nur ein Fleckchen Grün.
    Die Sonne war nun über den Horizont gestiegen und ‘ hatte das Morgenrot weggezaubert. Als Ranofer das Tal erreichte, brannte sie schon erbarmungslos auf seine nackten Schultern, heizte Sand und Felsen wieder auf, die noch kaum vom vergangenen Tag abgekühlt waren, und hüllte das Tal der Könige in flirrende, sengende Glut. Ranofer schlängelte sich zwischen den glühend heißen Felsen hindurch und fragte sich voller Panik, ob er dort jemals wieder hinausfinden würde. Ein Hügel sah aus wie der andere, der kühle, schwellende Nil und die vertrauten Straßen von Theben schienen so weit entfernt zu sein wie die Sterne. Hoch über ihm zog ein einsamer Falke seine Kreise am strahlenden Himmel, weit vor ihm waren Gebu und Wenamun zu kleinen schwarz-weißen Punkten zusammengeschrumpft und sahen gegen die majestätischen Hügel aus wie Zwerge. Zwei Diebe, ein Falke und Ranofer – sonst gab es in dieser glutheißen, stillen Welt keine Spur von Leben. Was sich hier im grellen Sonnenlicht unsichtbar, unhörbar und in Schwärmen bewegte, waren geisterhafte Erscheinungen, die Bau der Toten. Sie konnten sowohl bei Tag als auch bei Nacht umherstreifen. Sicherlich umflogen sie das stille Tal der Könige, wo die Toten wohnten, und versicherten sich, dass alles in Ordnung war und keine Gefahr drohte. Wenn sie unten im Haus der Ewigkeit schwach einen Schritt hörten, flatterten sie bestimmt verärgert den Schacht hinauf und hinaus in die heiße, stille Luft und suchten nach dem Eindringling. Ranofer benetzte aufgeregt seine trockenen Lippen und schlich auf Zehenspitzen durch den Sand. Er fragte sich, ob er nicht gerade über die unterirdischen Kammern eines lang verschiedenen Pharaos schritt und dessen wütenden Ba aufscheuchte. Beim trillernden Schrei des Falken zuckte er zusammen; mit klopfendem Herzen sah er, wie der Vogel nach Süden glitt. Als er sich wieder umdrehte, waren die beiden Gestalten spurlos verschwunden.
    Verwirrt suchte er den Felsen ab, wo er sie nur einen Moment zuvor noch gesehen hatte, dann fing er an zu rennen. Selbst die Gesellschaft dieser finsteren Gesellen war besser als die verhexte Totenwelt, die ihn umgab. Verängstigt und außer Atem kam er am Felsen an. Er blieb stehen – und machte einen Satz zurück hinter den Felsen; keine drei Schritte von ihm entfernt auf der anderen Seite waren die zwei Männer in eine Arbeit vertieft, was genau sie taten, konnte Ranofer jedoch auf die Schnelle nicht feststellen. Er drückte sich an den heißen Stein und versuchte, seinem Keuchen Herr zu werden. Er hörte ein Schaben und Knirschen hinter dem Felsen, von Zeit zu Zeit einen kehligen Fluch. Dann war es still.
    Er spähte vorsichtig um die Ecke. Vor einem großen, unregelmäßig gehauenen schwarzen Spalt im Fels lagen viele Steine und ein großer Brocken, den sie offenbar aus dem Spalt gerollt hatten. War das der Eingang zum Grab? Der Spalt bot einem ausgewachsenen Mann kaum Platz, um wie viel weniger konnte man einen großen Sarkophag von dort aus in die Grabkammer tragen? Ranofer kroch hinter seiner Ecke hervor und spähte ängstlich

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