Der goldene Kelch
ins Loch. Das hier sah ganz anders aus als die Grabeingänge, die er gesehen hatte oder vom Hörensagen kannte. Er warf einen unsicheren Blick hinter sich auf das trostlose Tal, in dem er nun ganz alleine war; dann legte er sich flach in den heißen Sand und steckte seinen Kopf in das schwarze Loch. Erst konnte er gar nichts sehen, dann nahm er einen matten Schimmer wahr. Er streckte den Arm aus und fühlte einen schmalen Vorsprung. Vielleicht eine Stufe? Er zwängte sich in den Spalt, schob sich über die Schwelle, bis er kopfüber im Loch hing und die Schwelle in seinen Bauch schnitt. Seine Hand ertastete kaum eine Elle unter dem ersten einen zweiten Vorsprung: eine weitere Stufe. Bestimmt war es eine Art Eingang. Die schiefe Steintreppe, die grob in dem Fels gehauen war, führte hinunter in den Schacht.
Am Fuß der Treppe musste ein Gang in die Grabkammer führen.
Ranofer zwängte sich aus dem Loch und rappelte sich auf. Abermals sah er sich ängstlich um und wandte sich wieder dem Spalt zu. Ein Sarkophag passte hier unmöglich durch. Es musste also ein geheimer Nebeneingang zum Grab sein.
Ein Geheimgang – natürlich! Plötzlich begriff er. Nun war ihm völlig klar, was Gebu im Schilde führte. Er hatte schon von solchen Geheimgängen gehört; hinterlistige Arbeiter brachen während des Grabbaus solche Geheimgänge durch die Wand der Grabkammer und drangen so weit zur Erdoberfläche vor, wie ihnen die Zeit erlaubte; die herausgebrochenen Steine warfen sie zu dem anderen Aushub aus dem Grab. Sie verkleideten das Loch in der Grabkammer, sodass es sich von der Wand nicht unterschied und man den Geheimgang nicht entdecken konnte. Jahre, vielleicht auch schon Monate nach dem Begräbnis, wenn die Besuche der Angehörigen seltener wurden, mussten sie nur noch den Gang von der Erdoberfläche aus angraben und konnten nach Belieben ins Grab eindringen und den Grabschatz unbeobachtet von den Wachen stehlen, denn der Geheimgang begann ein paar hundert Ellen vom eigentlichen Eingang entfernt hinter einem felsigen Hügel. Gebu war Steinmetz, Wenamun Maurer – ein Leichtes für sie, solch einen Gang zu graben. Ranofer war sicher, dass die beiden das ausgeheckt hatten. Plötzlich fiel ihm etwas ein und ihm stockte der Atem: die kleine Kammer auf dem Plan für das Grab des Oberdomänenverwalters des Pharaos! Es handelte sich gar nicht um eine Kammer, sondern um einen Geheimgang. In der Annahme, es sei eine Seitenkammer, würden die ahnungslosen Arbeiter die Wand durchbrechen. Kein Wunder war Gebu so in Wut geraten, als Ranofer nach der Kammer gefragt hatte. Er sah sich heute noch in der Werkstatt stehen, ruhig mit dem Finger auf den Plan deuten und unbedacht die gefährlichste aller Fragen stellen – es war, wie wenn er blind ins Maul eines Krokodils gekrochen wäre. Bei der Erinnerung daran lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Aber nicht nur die überstandene Gefahr machte ihn schaudern, sondern auch die gegenwärtige. Zitternd kauerte er neben den Spalt und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Armer Oberdomänenverwalter!, dachte er zerstreut. Nach seinem Tod wird der gute Mann nicht lange Ruhe haben.
Da hörte er plötzlich ein Geräusch. Er fuhr herum. Was war das? Er sah nichts und niemanden, nur die flirrende, leblose Ödnis. Sein Blick wanderte langsam zu dem Felsbrocken, hinter dem er sich vorher versteckt hatte. War da was?
Er drückte sich dichter an den Spalt und starrte auf den Felsbrocken. Und wieder erschienen ihm Gebu und Wenamun wie die besten Freunde; wenigstens waren sie Menschen, lebendige Menschen.
Aber ins Grab gehe ich nicht!, dachte Ranofer verzweifelt. Ich gehe doch nicht sehenden Auges hinunter an diesen fürchterlichen, finsteren Ort! Es genügt doch, dass ich von ihren Umtrieben weiß; ich könnte in die Stadt zurücklaufen und sie verraten.
Aber dann muss ich ja an diesem schrecklichen Felsen vorbei! Und durch das ganze grauenvolle, verlassene Tal der Könige! Ihm standen die Haare zu Berge. Er schob sich noch ein bisschen dichter an den Spalt. Da hörte er wieder dieses Geräusch, dieses Mal war es unheimlich nah und deutlich zu hören: das Rascheln von Flügeln. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als hätte ihn eine eiskalte Hand berührt. Da wirbelte ein Windstoß den Sand auf, lautes Klatschen und Schlagen drang an sein Ohr, und hinter dem Felsbrocken schwang sich eine riesengroße, schwarze Gestalt mit ausgestreckten Flügeln schwerfällig in die Luft und trudelte flatternd auf
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