Der goldene Kelch
ihn zu.
Mit einem Schrei hechtete Ranofer zum Spalt und glitt mit den Füßen voraus in die Dunkelheit hinab.
Heqet und der Alte trafen sich voller Vorfreude schon im Morgengrauen am Fischerkai. Für den bevorstehenden Festtag hatten sie sich richtig herausgeputzt. Eine Zeit lang plauderten sie unbeschwert, bewunderten gegenseitig ihre guten Kleider, neckten sich, scherzten und lachten aufgeregt und warfen immer wieder einen Blick auf die Hauptstraße, um zu sehen, ob Ranofer käme. „So ein fauler Hund!“, sagte Heqet. „Der schnarcht bestimmt noch auf seiner Matte – und das ausgerechnet heute! Komm, wir wecken ihn!“
„Weißt du denn, wo er wohnt?“, fragte der Alte. „Nein, ich dachte, du wüsstest das.“
„Ich habe keine Ahnung. Wir müssen also weiter warten.“
Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie das Treiben auf der Straße beobachteten. Während sich der Himmel rot färbte, kamen immer mehr Feiernde aus ihren Häusern und aus den Gassen. Das Stimmengewirr und das Gelächter schwoll an, in der Hauptstraße wimmelte es von Menschen, die Bewohner der Totenstadt strömten in Massen zu den Anlegestellen. Sie sahen viele Jungen mit ihren Eltern und Großeltern, Geschwistern, Tanten, Onkeln und Vettern, aber Ranofer war nicht unter ihnen. Vergoldete Sänften und zweirädrige Wagen kamen mit Läufern voran und gefolgt von der Dienerschaft aus dem Viertel der Edelleute. Fähren und Privatboote legten voll gestopft mit Passagieren nacheinander von den Kais ab; es sah aus wie eine Kette, die feierlich über den Fluss gespannt war, denn die ersten Boote hatten schon das Ostufer erreicht. Die beiden Freunde warteten immer noch am Fischerkai und wurden langsam nervös. Als die sieben Wimpel über der Palastmauer gehisst wurden und die Fanfare ertönte, sagte Heqet ungeduldig zum Alten: „Also, das kann er nicht überhören, selbst wenn er schläft wie ein Stein. Er wird sicher bald kommen.“
„Wenn du meinst“, entgegnete der Alte unsicher. „Ich verstehe das nicht, er müsste längst hier sein.“
„Na, jeder kann doch mal verschlafen.“
„An einem Festtag? Und ausgerechnet ein Junge, der immer Hunger hat?“
Heqet zuckte nur mit den Schultern. Er konnte sich das auch nicht erklären. Nervös spähte er zur geschäftigen Hauptstraße in die Richtung, aus der Ranofer kommen musste.
Einige Minuten später hatte der Betrieb in der Hauptstraße schon beträchtlich nachgelassen, nachdem die meisten Leute auf die Fähren gegangen und über den Fluss gesegelt waren. Heqet und der Alte wurden immer nervöser. Heqet runzelte die Stirn. „Wir verpassen noch die Fähre!“, rief er aufgeregt. „Bald sind alle Boote drüben. Er hat doch gesagt, dass er kommt. Wir haben so oft davon gesprochen. Ich habe ihn allerdings seit gestern Mittag nicht mehr gesehen.“
„Ich habe ihn gesehen“, sagte der Alte. „Hat er gesagt, dass er sich’s anders überlegt hat?“
„Nein, er – “ Schlagartig änderte sich der Gesichtsausdruck des Alten. Er drehte sich um und starrte die Straße hinunter, als könne er allein dadurch Ranofers Kommen erzwingen.
„Was ist denn, Gevatter?“, fragte Heqet unsicher. „Vielleicht nichts, vielleicht eine ganze Menge! Sag, mein Junge, ist dir Ranofer gestern Mittag vielleicht komisch vorgekommen? Hat er sich komisch benommen, als ob…“ Seine Stimme versagte. „Als ob – was?“, half Heqet nach.
„Ich weiß auch nicht“, gestand der Alte ein. „Ich weiß nur, dass er besorgt wirkte, sehr besorgt, als ich ihn am Abend traf. Ich habe ihn dreimal gefragt, ob er etwas auf dem Herzen hätte.“
„Ach, es war bestimmt wieder wegen seinem verdammten Halbbruder“, sagte Heqet. „Ranofer macht sich Sorgen wegen Gebus Gaunereien.“
„Nein… er hat immer über Grabräuber gesprochen. Er – “
Der Alte drehte sich mit offenem Mund zu Heqet. Eine Weile starrten sich die beiden entsetzt an. „Grabräuber!“, flüsterte Heqet. „Vielleicht hat er herausgefunden, dass Gebu ein Grabräuber ist!“
„Soweit ich weiß, hatte er noch nichts herausgefunden“, sagte der Alte aufgeregt. „Jedenfalls hat er mir nichts davon erzählt. Vielleicht wollte er nichts sagen!“
„Das hätte er dir bestimmt erzählt! Natürlich behält er seine Gedanken oft für sich, vor allem seine Sorgen und seine Ängste…“ Nun versagte Heqet die Stimme. „Was ist denn?“
„Gestern Mittag, da habe ich ihm etwas erzählt. Ich hatte eine Unterhaltung belauscht. Ich dachte erst,
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