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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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allein zu sein; diesmal weinte sie vor Angst.
    Nicht einmal Pantalaimon, der Lyra sonst immer aufheiterte, fiel etwas ein, das ihr Hoffnung machen konnte. Sie konnte lediglich das Alethiometer noch einmal befragen. Iorek werde in einer Stunde hier sein, sagte es, und dann sagte es noch einmal, Lyra müsse ihm vertrauen. Lyra hatte sogar das Gefühl — allerdings war das schwerer zu lesen —, das Alethiometer tadle sie dafür, dieselbe Frage zweimal gestellt zu haben.
    Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Zweikampf überall verbreitet, und auf dem dafür vorgesehenen Platz wimmelte es von Bären. Hochrangige Bären besetzten die besten Plätze, und ein besonderer Bereich war für die Bärinnen, darunter natürlich Iofurs Frauen, abgeteilt worden. Lyra hätte zu gern mehr über die Bärinnen gewußt, aber jetzt war nicht die Zeit, herumzugehen und Fragen zu stellen. Statt dessen hielt sie sich in Iofur Raknisons Nähe. Sie beobachtete, wie die Höflinge in seiner Umgebung ihren Rang gegenüber gewöhnlichen Bären von außerhalb herauskehrten, und versuchte, die Bedeutung der verschiedenen Helmbüsche, Spangen und Abzeichen zu erraten, die alle Bären zu tragen schienen. Einige der höchstrangigen Bären trugen kleine Stoffpuppen mit sich herum, die wie Iofurs Ersatzdæmon aussahen; vielleicht wollten sie sich bei ihm einschmeicheln, indem sie die von ihm initiierte Mode nachahmten. Lyra empfand eine hämische Freude, als sie sah, wie ratlos die Bären waren, sobald sie merkten, daß Iofur seine Puppe weggelegt hatte. Sollten sie ihre Puppen auch wegwerfen? Waren sie jetzt in Ungnade gefallen? Wie sollten sie sich benehmen?
    Denn das war die bei Hofe vorherrschende Stimmung, wie Lyra allmählich erkannte: Niemand wußte, woran er war. Diese Bären waren nicht charakterfest und standhaft wie Iorek Byrnison; sie lebten in einer Atmosphäre ständiger Verunsicherung. Jeder beobachtete den anderen, und alle beobachteten Iofur.
    Und sie beobachteten Lyra mit unverhüllter Neugier. Lyra hielt sich bescheiden neben Iofur, sagte nichts und schlug die Augen nieder, wenn ein Bär sie ansah.
    Der Nebel hatte sich inzwischen gelichtet, und die Luft war klar. Zufällig war die kurze Spanne um Mittag, in der es etwas heller wurde, auch die Zeit, in der Iorek nach Lyras Schätzung eintreffen mußte. Zitternd stand sie auf einer kleinen Anhöhe aus festgetretenem Schnee am Rand des Kampfplatzes, sah zu dem hellen Schein am Himmel hinauf und wünschte sich mit der ganzen Macht ihres Herzens, eine Schar zerzauster schwarzer Gestalten möge vom Himmel herabkommen und sie mitnehmen oder die geheimnisvolle Stadt in der Aurora würde vor ihr erscheinen und sie könnte in aller Ruhe im hellen Sonnenschein über die breiten Boulevards schlendern. Oder Ma Costa würde sie in ihre starken Arme schließen, wo es warm nach ihrem Körper und nach Essen roch…
    Lyra merkte, daß ihr Tränen über die Wangen liefen, Tränen, die fast sofort gefroren und die sie unter Schmerzen wieder wegkratzen mußte. Sie hatte solche Angst. Bären weinten nicht und verstanden deshalb auch nicht, wie Lyra zumute war; sie hielten es für eine menschliche Eigentümlichkeit, die keine weitere Bedeutung hatte. Und Pantalaimon konnte Lyra natürlich nicht trösten, wie er es sonst tat, obwohl sie die Hand in der Tasche fest um die warme, kleine Maus geschlossen hatte und er mit seiner Nase ihre Finger liebkoste.
    Neben ihr legten die Schmiede letzte Hand an Iofur Raknisons Rüstung. Iofur ragte in die Höhe wie ein Turm aus glänzend poliertem Stahl. Die einzelnen Platten waren mit Golddraht eingelegt, der Helm umschloß den oberen Teil seines Kopfes wie eine gleißende Hülle in Silbergrau mit tiefen Augenschlitzen, und der untere Teil seines Körpers war durch ein eng anliegendes Kettenhemd geschützt. Als Lyra diese Rüstung sah, wurde ihr klar, daß sie Iorek Byrnison verraten hatte, denn Iorek hatte nichts Vergleichbares. Seine Rüstung schützte nur Rücken und Seiten. Wieder sah Lyra Iofur Raknison an, diese elegante, kraftvolle Erscheinung, und sie spürte in sich eine tiefe Verzweiflung, eine Mischung aus Schuld und Angst.
    »Entschuldigt, Eure Majestät«, sagte sie, »vielleicht erinnert Ihr Euch, was ich vorher gesagt habe…«
    Ihr Stimme zitterte und klang im Freien dünn und schwach. Abgelenkt von dem toten Seehund, den drei Bären vor ihm hochhielten, damit er ihn mit seinen spitz zugefeilten Krallen zerfetzen konnte, wandte Iofur Raknison ihr

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