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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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rollten die beiden Bären über den Boden. Fontänen von Schnee spritzten nach allen Seiten, so daß zwischendurch nicht zu sehen war, wer die Oberhand hatte.
    Lyra wagte kaum zu atmen und preßte ihre Hände so stark zusammen, daß sie schmerzten. Sie meinte zu sehen, wie Iofur eine Wunde in Ioreks Bauch riß, aber das konnte nicht sein, denn im nächsten Augenblick, nach einer weiteren, gewaltigen Explosion von Schnee, standen beide Bären aufrecht wie Boxer da, und Iorek schlug mit seinen mächtigen Pranken nach Iofurs Gesicht, während Iofur genauso wild zurückschlug.
    Die Wucht der Schläge ließ Lyra erzittern. Es war, als ob ein Riese mit einem Schmiedehammer zuschlüge, einem Hammer, der mit fünf stählernen Spitzen besetzt war…
    Eisen prallte auf Eisen, Zähne schlugen aneinander, der Atem ging stoßweise, und Füße stampften über die gefrorene Erde. Der Schnee war mit Rot bespritzt und meterweit zu einem karmesinroten Matsch zertrampelt.
    Iofurs Rüstung war inzwischen in einem erbärmlichen Zustand. Die Panzerplatten waren aufgerissen und zerbeult, der Golddraht hing heraus oder war dick mit Blut beschmiert, den Helm hatte er verloren. Ioreks Rüstung befand sich, so unansehnlich sie war, in besserem Zustand. Eingedellt, aber intakt, hielt sie den wuchtigen Hammerschlägen des Bärenkönigs stand, und die brutalen, fünfzehn Zentimeter langen Krallen glitten an ihr ab.
    Auf der anderen Seite war Iofur größer und stärker als Iorek, und Iorek war müde und hungrig und hatte mehr Blut verloren. Er war am Bauch verwundet, an beiden Armen und am Hals, während Iofur nur am Unterkiefer blutete. Lyra wünschte, sie könnte ihrem Freund helfen, aber was konnte sie tun?
    Und es stand jetzt zunehmend schlechter um Iorek. Er hinkte, und jedesmal, wenn er die Vorderpfote aufsetzte, sah man, daß sie sein Gewicht kaum trug. Er schlug damit nicht mehr zu, und die Schläge seiner rechten Hand wurden auch schwächer; sie wirkten eher wie ein Tätscheln, verglichen mit den mächtigen Hieben, die er wenige Minuten zuvor ausgeteilt hatte.
    Auch Iofur bemerkte das. Er begann Iorek zu verspotten, beschimpfte ihn als lahme Ente, winselnden Welpen, rostzerfressenes Wrack und einen dem Tod Geweihten und deckte ihn die ganze Zeit mit Schlägen von rechts und links ein, die Iorek nicht mehr parieren konnte. Schritt für Schritt mußte Iorek zurückweichen, und immer tiefer duckte er sich unter dem Hagel von Schlägen, den der Bärenkönig mit höhnischen Bemerkungen auf ihn niedergehen ließ.
    Lyra war in Tränen aufgelöst. Ihr tapferer und furchtloser Beschützer würde sterben, und sie durfte ihn nicht verraten, indem sie wegblickte, denn wenn er sie ansah, sollte er ihre strahlenden Augen voller Liebe und Glauben sehen, kein feige verhülltes Gesicht oder eine furchtsam abgewandte Schulter.
    Also sah sie hin, aber durch den Tränenschleier sah sie nicht, was wirklich geschah, und vielleicht hätte sie es sowieso nicht erkannt. Iofur jedenfalls sah es ganz sicher nicht.
    Denn Iorek wich nur deshalb zurück, weil er festen, trockenen Boden unter den Füßen brauchte und einen Felsblock, von dem er sich abdrücken konnte; der nutzlos herunterhängende linke Arm war in Wirklichkeit ausgeruht und stark. Einen Bären hätte er nicht hereinlegen können, aber Lyra hatte ihm ja gesagt, daß Iofur kein Bär sein wollte, sondern ein Mensch; deshalb konnte Iorek ihn überlisten.
    Schließlich fand er, was er brauchte: einen festen, tief im geforenen Boden verankerten Felsen. Er stellte sich mit dem Rücken dagegen, sammelte alle Kraft in den Beinen und paßte den richtigen Augenblick ab.
    Der Augenblick kam, als Iofur sich hoch aufrichtete, in Triumphgeheul ausbrach und den Kopf höhnisch nach links auf Ioreks scheinbar schwache Seite drehte.
    Jetzt erwachte Iorek zum Leben. Wie eine Welle, die sich im Meer über Tausende von Kilometern aufbaut und im tiefen Wasser nicht zu sehen ist, sich aber dann, wenn sie das seichte Küstengewässer erreicht, himmelhoch auftürmt und die Menschen an der Küste in Angst und Schrecken versetzt, bevor sie mit unwiderstehlicher Kraft an Land kracht — so erhob sich Iorek Byrnison gegen Iofur, stieß sich mit Urgewalt von dem festen, trockenen Felsen ab und versetzte mit seiner entfesselten linken Pranke dem ungeschützten Kiefer Iofur Raknisons einen gewaltigen Schlag.
    Die Wucht, mit der er zuschlug, war grauenhaft. Der untere Teil des Kiefers wurde abgerissen, flog durch die Luft und

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