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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Kirchenmusik so schön an. Einige wurden große Sänger, wunderbare Künstler. Viele wurden aber nur dicke, aufgedunsene Männer, die eigentlich gar keine waren, und einige starben auch an den Folgen der Operation. Die Kirche schreckt vor einem kleinen Schnitt jedenfalls nicht zurück, und es gibt einen Präzedenzfall. Und heute kann man das ja viel hygienischer machen als damals, als man weder Betäubungsmittel noch sterile Verbände, noch entsprechende Pflege kannte. Es wäre eine vergleichsweise harmlose Sache.« »Ist es nicht!« sagte Lyra heftig. »Wirklich nicht!«
    »Nein, natürlich nicht. Deshalb mußten sie sich ja auch hoch im Norden verstecken, wo es dunkel und neblig ist. Die Kirche war natürlich froh, daß so jemand wie dein Mutter das Unternehmen leitete. Wer hätte einer so charmanten, reizenden und vernünftigen Frau mit so guten Beziehungen mißtrauen können? Zugleich war das Unternehmen ja geheim und inoffiziell, deshalb konnte das Magisterium im Bedarfsfall auch jede Verbindung mit ihr bestreiten.«
    »Aber wer kam überhaupt auf die Idee mit dem Schneiden?« »Das war deine Mutter. Sie vermutete, daß es einen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen zur Zeit der Pubertät gab: zwischen der Änderung der Gestalt des Dæmons und der Tatsache, daß die Jugendlichen Staub anzogen. Wenn man nun den Dæmon vom Körper trennte, würden wir dem Staub — der Erbsünde — vielleicht nicht mehr unterworfen sein. Die Frage war, ob es möglich ist, Dæmon und Körper zu trennen, ohne daß der Mensch stirbt. Deine Mutter hat viele Reisen unternommen und alle möglichen Dinge gesehen. Sie ist auch in Afrika gewesen. Die Afrikaner haben eine Methode, durch die sie Menschen zu Sklaven machen, zu sogenannten Zombies. Das sind willenlose Geschöpfe, die Tag und Nacht arbeiten, ohne wegzurennen oder sich zu beklagen. Sie sehen aus wie Leichen…«
    »Menschen ohne Dæmon!«
    »Genau. Deine Mutter wußte also, daß es möglich war, beides zu trennen.«
    »Und… Tony Costa hat mir von schrecklichen Gespenstern erzählt, die es in den Wäldern im Norden gibt. Wahrscheinlich sind das auch Menschen ohne Dæmon.«
    »Richtig. Jedenfalls entstand aus solchen Ideen und aus der Besessenheit der Kirche mit der Erbsünde die General-Oblations-Behörde.«
    Lord Asriels Dæmon zuckte mit den Ohren, und er legte der Leopardin die Hand auf den schönen Kopf.
    »Noch etwas geschah, wenn sie den Schnitt machten«, fuhr er fort, »auch wenn sie es nicht merkten. Die Energie, die Körper und Dæmon verbindet, ist ungeheuer stark. Wird der Schnitt gemacht, wird diese Energie im Bruchteil einer Sekunde freigesetzt. Man hat das nicht bemerkt, weil man diese Energie falsch als Schock, Abscheu oder moralische Empörung interpretierte und sich antrainierte, dabei nichts zu empfinden. Man begriff also nicht, was man mit dieser Energie anstellen konnte, und dachte nicht daran, sie nutzbar zu machen…«
    Lyra konnte nicht mehr stillsitzen. Sie stand auf, ging zum Fenster und starrte blicklos in die weite, dunkle Ödnis hinaus. Es gab so viel Grausamkeit. Egal, wie wichtig es war, das mit der Erbsünde herauszufinden: Was man Tony Makarios und den anderen Kindern angetan hatte, war zu grausam. Dafür gab es keine Rechtfertigung.
    »Und was hast du getan?« fragte sie. »Hast du auch Daemonen abgeschnitten?«
    »Ich interessiere mich für etwas ganz anderes. Ich glaube, die Oblations-Behörde geht nicht weit genug. Ich möchte zur Quelle des Staubes vorstoßen.«
    »Zur Quelle? Wo kommt der Staub denn her?«
    »Von jenem anderen Universum, das wir durch die Aurora sehen können.«
    Lyra drehte sich zu ihm um. Entspannt lehnte ihr Vater in seinem Sessel, aber aus seinen Augen sprachen eine ungezügelte Kraft und eine Wildheit, die der seines Dæmons ebenbürtig war. Sie liebte ihn nicht, und sie konnte ihm nicht trauen, aber sie bewunderte ihn und den extravaganten Luxus, den er in dieser Einöde zusammengetragen hatte, und seinen gewaltigen Ehrgeiz.
    »Was ist das für ein anderes Universum?« fragte sie.
    »Eine von Milliarden von Welten, die nebeneinander existieren. Die Hexen wissen seit Jahrhunderten davon, aber die ersten Theologen, die die Existenz dieser Welten mathematisch bewiesen, wurden vor gut fünfzig Jahren exkommuniziert. Dabei existieren sie, unbestreitbar. Allerdings hielt es bisher keiner für möglich, von einer Welt in die andere hinüberzutreten. Dadurch, so glaubten wir, würden elementare Gesetze verletzt. Nun, wir

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