Der Goldene Kompass
Geschöpfen der Erde und der Luft, und es hatte keinen Unterschied zwischen ihnen gegeben.
Und sie sahen den Unterschied und wußten, was gut und böse war; sie schämten sich und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze, um ihre Blöße zu bedecken.«
Lord Asriel klappte das Buch zu.
»Und so kam die Sünde in die Welt«, sagte er, »die Sünde, die Scham und der Tod. Das alles kam in dem Augenblick, in dem ihre Dæmonen eine feste Gestalt annahmen.«
»Aber…« Lyra suchte nach Worten. »Aber die Geschichte ist doch gar nicht wahr, oder? Nicht wahr wie Chemie oder Maschinenbau, nicht diese Art von wahr. Adam und Eva gab es doch nicht wirklich? Der Cassington-Stipendiat meinte, das sei nur eine Art Märchen.«
»Das Cassington-Stipendium wird der Tradition gemäß einem Freidenker verliehen; seine Aufgabe ist, den Glauben der anderen Wissenschaftler herauszufordern. Also sagt er natürlich so was. Aber stelle dir Adam und Eva als imaginäre Zahlen vor, wie die Wurzel aus minus eins: Man kann ihre Existenz letztlich nicht beweisen, aber wenn man sie in Gleichungen einbezieht, kann man alle möglichen Dinge rechnen, die man ohne sie nicht rechnen könnte. Jedenfalls lehrt die Kirche das seit Tausenden von Jahren. Und als Rusakow den Staub entdeckte, gab es endlich auch einen physikalischen Beweis dafür, daß sich etwas verändert, wenn Unschuld zu Erfahrung wird. Übrigens kommt die Bezeichnung Staub auch aus der Bibel. Zuerst sprach man von Rusakow-Teilchen, aber dann machte jemand auf einen merkwürdigen Vers gegen Ende des dritten Kapitels der Genesis aufmerksam, in dem Gott Adam verflucht, weil er von der Frucht gegessen hat.«
Lord Asriel schlug die Bibel auf und zeigte Lyra das Stelle. Sie las:
»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Staub und sollst zu Staub werden.«
»Den kirchlichen Gelehrten hat die Übersetzung dieses Verses immer Kopfzerbrechen bereitet«, sagte Lord Asriel. »Einige meinen, es dürfe nicht heißen ›du sollst zu Staub werden‹, sondern ›du sollst Staub unterworfen sein‹, andere sagen, in Wirklichkeit handle es sich um das Eingeständnis Gottes, daß er selbst mit einem Teil seines Wesens ein Sünder sei. Jeder sagt etwas anderes, und das kann auch gar nicht anders sein, denn der Text ist verdorben. Aber es war ein so schönes Wort, deshalb nannte man die Teilchen kurzerhand Staub.«
»Und wer sind die Gobbler?« fragte Lyra.
»Die General-Oblations-Behörde… die Komplizen deiner Mutter. Wirklich klug von ihr, sich genau zum richtigen Zeitpunkt eine eigene Machtbasis zu schaffen, aber sie ist ja auch eine intelligente Frau, wie du sicher schon gemerkt hast. Das Magisterium hat nichts dagegen, wenn es alle möglichen verschiedenen Behörden gibt. Es kann sie gegeneinander ausspielen; wenn eine Behörde erfolgreich ist, tut man im Magisterium so, als habe man sie schon die ganze Zeit unterstützt, und wenn eine scheitert, tut man so, als handle es sich um lauter Verräter, die sowieso ohne Genehmigung gearbeitet hätten.
Deine Mutter hat immer nach Macht gestrebt, mußt du wissen. Zuerst wollte sie sie auf normale Weise erlangen, durch Heirat, aber das klappte nicht, wie du wahrscheinlich gehört hast. Also mußte sie sich an die Kirche wenden. Natürlich konnte sie nicht denselben Weg einschlagen wie ein Mann und Priester werden und so weiter — sie brauchte eine besondere Methode. Sie mußte eine eigene Ordnung gründen, Beziehungen aufbauen, die sie dann spielen lassen konnte. Sich auf Staub zu spezialisieren war ein kluger Schachzug. Davor hatten alle Angst, und niemand wußte, was er dagegen tun konnte. Als sie also anbot, eine Untersuchung zu leiten, war man im Magisterium so erleichtert, daß man sie mit Geld und allen notwendigen Hilfsmitteln unterstützte.«
»Aber sie schneiden —« Lyra brachte es nicht über sich, weiterzusprechen, es würgte sie regelrecht. »Du weißt, was sie getan haben! Warum hat die Kirche das zugelassen?«
»Es gibt einen Präzedenzfall. Etwas Ähnliches wurde schon einmal gemacht. Weißt du, was das Wort Kastration bedeutet? Es bedeutet, daß man einem Jungen die Geschlechtsorgane abschneidet, so daß er sich nicht zu einem normalen Mann entwickeln kann. Ein Kastrat hat sein Leben lang eine hohe Sopranstimme, und die Kirche hatte auch nichts gegen diese Praxis: Kastraten hörten sich in der
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