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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Schluchzen tönte laut über den endlosen Schnee.
    »Und selbst wenn… wenn Mrs. Coulter zuerst zu Roger käme, würde ihn das auch nicht retten, weil sie ihn wieder nach Bolvangar oder einen noch schlimmeren Ort bringen würde, und mich würden sie aus Rache umbringen… Warum tun sie Kindern so etwas an, Pan? Hassen sie Kinder denn so sehr, daß sie sie auseinanderreißen wollen? Warum tun sie das bloß?«
    Aber Pantalaimon wußte auch keine Antwort darauf, er konnte sich nur an Lyra drücken. Und ganz allmählich ließ der Sturm der Gefühle nach, und Lyra kam wieder zu sich. Sie war immer noch Lyra, auch wenn sie fror und Angst hatte.
    »Ich wünschte…«, sagte sie und brach ab. Wünschen allein brachte gar nichts. Ein letzter Schluchzer schüttelte sie, dann war sie bereit weiterzugehen.
    Der Mond war untergegangen, und der südliche Himmel war tiefschwarz, obwohl Milliarden von Sternen an ihm funkelten wie Diamanten auf Samt. Ihr Licht wurde freilich bei weitem, ja hundertfach überstrahlt vom Licht der Aurora. Nie hatte Lyra sie so hell und dramatisch leuchten sehen; mit jedem Zucken und Zittern tanzten neue wunderbare Lichterscheinungen über den Himmel, und hinter dem ständig sich verändernden Lichtschleier war klar und deutlich jene andere Welt, jene sonnenbeschienene Stadt zu sehen.
    Je höher sie kamen, desto weiter breitete sich das öde Land unter ihnen aus. Im Norden lag das gefrorene Meer, hier und da zu Bergkämmen aufgeschichtet, wo zwei Eisschollen gegeneinander geschoben worden waren, sonst aber eine flache, weiße, endlose Fläche, die bis zum Pol reichte und darüber hinaus, gestaltlos, ohne Leben, ohne Farbe und unvorstellbar trostlos. Im Osten und Westen erhoben sich weitere Berge, gewaltig aufragende, gezackte Gipfel, deren steile Hänge dick mit Schnee bedeckt waren, den der Wind zu scharfkantigen, klingenähnlichen Gebilden verweht hatte. Aus dem Süden waren sie gekommen, und Lyra blickte sehnsüchtig zurück, ob sie irgendwo ihren lieben Freund Iorek Byrnison und seine Kampfgenossen erspähen konnte, doch nichts bewegte sich auf der weiten Ebene. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das ausgebrannte Wrack des Zeppelins sah und den scharlachroten Schnee um die Leichen der Krieger.
    Pantalaimon flog in Gestalt einer Eule hoch hinauf und stieß schon kurze Zeit später wieder auf ihr Handgelenk herunter.
    »Sie sind gleich hinter dem Gipfel dort!« rief er. »Lord Asriel hat seine Instrumente ausgebreitet, und Roger kommt nicht los…«
    Als er das sagte, flackerte das Licht der Aurora, wurde schwächer wie eine anbarische Birne, deren Ende gekommen ist, und ging dann aus. Im Dunkel spürte Lyra jedoch die Gegenwart des Staubes, denn die Luft schien geladen mit finsteren Absichten gleich den Schemen noch nicht geborener Gedanken.
    Inmitten der sie umhüllenden Dunkelheit hörte sie den Schrei eines Kindes: »Lyra! Lyra!«
    »Ich komme!« schrie sie zurück und stolperte, kletterte, rutschte und kämpfte sich vorwärts. Obwohl am Ende ihrer Kräfte angelangt, schleppte sie sich unermüdlich weiter und weiter durch den geisterhaft schimmernden Schnee.
    »Lyra! Lyra!«
    »Ich bin gleich da«, keuchte sie. »Gleich da, Roger!«
    Pantalaimon verwandelte sich aufgeregt in ein Tier nach dem anderen: Löwe, Hermelin, Adler, Wildkatze, Hase, Salamander, Eule, Leopard, alle Gestalten, die er je angenommen hatte, eine Vielfalt von Formen im Angesicht des Staubes…
    »Lyra!«
    Dann hatte sie den Gipfel erreicht und sah, was auf der anderen Seite geschah.
    Fünfzig Meter vor ihr stand im Sternenlicht Lord Asriel und drehte zwei Drähte zusammen, die zu seinem Schlitten führten. Der Schlitten war umgedreht, und auf ihm standen eine ganze Reihe von Batterien, Gefäßen und verschiedenen Instrumenten, die der Frost bereits mit einer Eisschicht überzogen hatte. Lord Asriel war in schwere Pelze vermummt, sein Gesicht wurde vom Schein einer Naphthalampe erleuchtet. Neben ihm kauerte wie eine Sphinx sein Dæmon, die Schneeleopardin mit dem schön gefleckten Fell, unter dem sich glänzend die Muskeln abzeichneten; ihr Schwanz schlug träge auf den Schnee.
    Im Maul hielt sie Rogers Dæmon.
    Das kleine Geschöpf wehrte sich und schlug um sich und flatterte, jetzt ein Vogel, dann ein Hund, eine Katze, eine Ratte und wieder ein Vogel, und es rief immer wieder nach Roger, der sich nur wenige Meter entfernt verzweifelt gegen die unerbittliche Kraft stemmte, mit der die Schneeleopardin seinen Dæmon

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