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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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hätte Lyra sich das träumen lassen.
    Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Roger lag tot in ihren Armen, still, friedlich, endlich zur Ruhe gekommen. Sie hörte, wie ihre Eltern miteinander sprachen.
    »Das werden sie nie erlauben«, sagte ihre Mutter.
    »Was heißt erlauben?« sagte ihr Vater. »Wir brauchen keine Erlaubnis, schließlich sind wir keine Kinder mehr. Dank mir kann jeder, der will, da rüber.«
    »Aber sie haben es verboten! Sie werden den Weg versperren und jeden exkommunizieren, der es versucht!«
    »Zu viele werden es versuchen, man wird sie nicht daran hindern können. Es wird das Ende der Kirche sein, Marisa, das Ende des Magisteriums, das Ende von Jahrhunderten der Dunkelheit! Sieh das Licht da oben: die Sonne einer anderen Welt! Spürst du nicht die Wärme auf deiner Haut?«
    »Aber sie sind stärker als alle, Asriel! Du weißt nicht…«
    »Ich weiß nicht? Ich? Niemand auf der Welt weiß besser als ich, wie stark die Kirche ist! Aber dafür ist sie nicht stark genug. Durch den Staub wird sich sowieso alles ändern, und das läßt sich jetzt nicht mehr aufhalten.«
    »Ist es das, was du wolltest? Daß wir alle in Sünde und Finsternis ersticken und umkommen?«
    »Ich will ausbrechen, Marisa! Und das habe ich getan. Sieh doch, wie die Palmen am Strand sich wiegen! Spürst du den Wind? Den Wind einer anderen Welt! Fühle ihn in deinen Haaren, auf deinem Gesicht…«
    Lord Asriel schlug Mrs. Coulters Kapuze zurück, drehte ihr Gesicht dem Wind zu und fuhr ihr mit den Händen durch das Haar. Lyra sah atemlos zu und wagte nicht, sich zu rühren.
    Die Frau klammerte sich an ihn wie betäubt und schüttelte unglücklich den Kopf. »Nein… nein… sie kommen, Asriel — sie wissen, wo ich bin…«
    »Dann komm mit, weg von hier und dieser Welt!«
    »Das wage ich nicht…«
    »Du? Du wagst es nicht? Deine Tochter würde mitkommen. Sie würde alles wagen und ihre Mutter beschämen.«
    »Dann nimm doch sie mit, bitte sehr. Sie gehört mehr zu dir als zu mir.«
    »Das ist nicht wahr. Du hast sie aufgenommen, du hast versucht, sie zu erziehen. Du wolltest sie doch damals.«
    »Aber sie war zu ungezogen, zu dickköpfig. Ich habe zu lange gewartet… Wo ist sie eigentlich jetzt? Ich bin ihren Fußstapfen hier herauf gefolgt…«
    »Willst du sie denn immer noch zu dir nehmen? Zweimal hast du versucht, sie festzuhalten, und zweimal ist sie geflohen. Ich an ihrer Stelle würde lieber weglaufen, ganz weit weglaufen, als dir eine dritte Chance geben.«
    Seine Hände, die immer noch ihren Kopf hielten, griffen plötzlich zu, und er zog Mrs. Coulter an sich und küßte sie leidenschaftlich, ein Kuß mehr der Grausamkeit als der Liebe, wie es Lyra schien. Als ihr Blick auf die Dæmonen der beiden fiel, bot sich ihr ein seltsamer Anblick: Die Leopardin kauerte geduckt da, die Krallen im Fleisch des goldenen Affen, und der Affe lag selig und halb ohnmächtig im Schnee.
    Dann stieß Mrs. Coulter Lord Asriel heftig zurück und sagte: »Nein, Asriel — mein Platz ist in dieser Welt, nicht dort drüben…«
    »Komm mit!« drängte er sie. »Komm mit und arbeite mit mir!«
    »Wir können nicht zusammenarbeiten, du und ich.«
    »Nein? Wir zwei, wir könnten das ganze Universum auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, Marisa! Wir könnten die Quelle des Staubes finden und sie für immer zuschütten! Und wie gern wärst du bei dieser großartigen Aufgabe dabei, das weiß ich doch genau. Du kannst mir alles vorlügen, über die Oblations-Behörde, über deine Liebhaber — ja, ich weiß das mit Boreal, und es ist mir egal —, über die Kirche und sogar über das Kind, aber nicht über deine wirklichen Wünsche…«
    Und wieder preßten sie, getrieben von einer unersättlichen Gier, ihre Münder aufeinander. Ihre Dæmonen liebkosten sich heftig; die Schneeleopardin rollte sich auf den Rücken, der Affe fuhr mit seinen Krallen durch das weiche Fell an ihrem Hals, und sie knurrte ganz tief vor Wohlbehagen.
    »Wenn ich nicht mitkomme, wirst du versuchen, mich zu vernichten«, sagte Mrs. Coulter und riß sich los.
    »Warum sollte ich?« rief er lachend, und das Licht der anderen Welt umfloß seinen Kopf. »Komm mit, arbeite mit mir, und dein Leben wird mir wichtig sein. Bleibe hier, und du bist mir völlig egal. Bilde dir nicht ein, ich würde dann noch einen Gedanken an dich verschwenden. Also bleibe und spinne deine Intrigen in dieser Welt, oder komm mit!«
    Mrs. Coulter zögerte; ihre Augen gingen zu, und sie wankte,

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