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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Bethaus zurück.
    Der Fürsprecher war ein rundlicher, älterer Herr namens Father Heyst. Seine Aufgabe war es, am College Gottesdienste durchzuführen, zu predigen, zu beten und die Beichte abzunehmen. Als Lyra kleiner gewesen war, hatte er sich für ihr geistliches Wohl interessiert, doch hatten ihre Gleichgültigkeit und unaufrichtige Reue ihn enttäuscht. Sie lohnte die Mühe nicht, hatte er gefolgert.
    Als Lyra und Roger ihn rufen hörten, blieben sie widerwillig stehen und betraten dann schlurfend das große, dämmrige und muffig riechende Bethaus. Kerzen flackerten vor verschiedenen Heiligenbildern, und von der Orgelempore, wo Reparaturen in Gang waren, kamen ferne Geräusche; ein Diener polierte das Lesepult aus Messing. Father Heyst stand in der Tür der Sakristei und winkte sie zu sich.
    »Wo wart ihr?« fragte er. »Ich habe euch jetzt zwei- oder dreimal hier hereinkommen sehen. Was führt ihr im Schilde?«
    Sein Ton war nicht anklagend. Er klang, als sei er wirklich interessiert. Sein Dæmon, eine Eidechse, saß auf seiner Schulter und sah die beiden Kinder züngelnd an.
    »Wir wollten uns in der Krypta umsehen«, sagte Lyra.
    »Warum denn das?«
    »Die… die Särge«, sagte sie. »Wir wollten uns all die Särge ansehen.«
    »Aber warum?«
    Sie zuckte die Schultern, ihre gewöhnliche Antwort, wenn man sie bedrängte.
    »Und du«, fuhr Father Heyst an Roger gewandt fort. Rogers Dæmon wedelte ängstlich mit seinem Terrierschwanz, um ihn zu besänftigen. »Wie heißt du?«
    »Roger, Father.«
    »Wenn du ein Diener bist, wo arbeitest du?«
    »In der Küche, Father.«
    »Solltest du jetzt nicht dort sein?«
    »Doch, Father.«
    »Dann fort mit dir.«
    Roger drehte sich um und rannte weg. Lyra zeichnete mit dem Fuß gelangweilt Muster auf den Boden.
    »Was dich betrifft, Lyra«, sagte Father Heyst, »so freue ich mich, daß das Bethaus und alles, was dazugehört, dich interessieren. Du hast wirklich Glück, inmitten von so viel Geschichte aufzuwachsen.«
    »Mhm«, sagte Lyra.
    »Ich verstehe nur nicht ganz, was für Kameraden du dir aussuchst. Bist du einsam?«
    »Nein.«
    »Vermißt du die Gesellschaft anderer Kinder?«
    »Nein.«
    »Ich meine damit nicht Küchenjungen wie Roger, sondern Kinder wie dich, von vornehmer Abstammung. Hättest du gerne solche Spielkameraden?«
    »Nein.«
    »Aber vielleicht andere Mädchen…«
    »Nein.«
    »Sieh mal, keiner von uns will, daß du alle Freuden der Kindheit entbehren mußt. Ich denke manchmal, du mußt hier unter all den älteren Wissenschaftlern doch ganz schön einsam sein, Lyra. Bist du das?«
    »Nein.«
    Er schlug die Daumen über seinen gefalteten Fingern aneinander. Ihm fiel nichts mehr ein, was er dieses sture Kind fragen konnte.
    »Wenn du je Sorgen hast«, sagte er schließlich, »kannst du damit immer zu mir kommen. Ich hoffe, du weißt das.«
    »Ja«, sagte sie.
    »Sagst du deine Gebete?«
    »Ja.«
    »Braves Mädchen. Dann geh jetzt.«
    Mit einem kaum unterdrückten Seufzer der Erleichterung wandte Lyra sich zum Gehen. Da sie die Gobbler nicht unter der Erde gefunden hatte, nahm sie ihre Streifzüge durch die Straßen wieder auf. Dort war sie zu Hause.
    Dann, als sie fast schon das Interesse an ihnen verloren hatte, tauchten die Gobbler in Oxford auf.
    Das erste, was Lyra hörte, war, daß ein Junge aus einer gyptischen Familie, die sie kannte, vermißt wurde.
    Es war zur Zeit des Pferdemarktes. Im Kanalbecken drängten sich Flußboote und Schleppkähne, auf denen Händler und Reisende standen, und auf den Kais im Hafen von Jericho blinkten Pferdegeschirre, Hufgetrappel und das lärmende Feilschen der Händler ertönte. Lyra genoß den Pferdemarkt in vollen Zügen. Man konnte hier nicht nur in einem unbewachten Augenblick Pferde für einen Ritt entführen, es boten sich auch endlose Gelegenheiten, Kämpfe auszutragen.
    Außerdem hatte sie in diesem Jahr einen großartigen Plan. Angeregt durch die Entführung des Flußbootes im Vorjahr, wollte sie diesmal eine ganze Reise machen, bevor sie wieder vom Boot vertrieben wurde. Wenn sie und ihre Kameraden aus der Collegeküche es bis Abingdon schafften, konnten sie dort vielleicht das Wehr blockieren…
    Doch in diesem Jahr sollte der Krieg ausfallen. Lyra schlenderte gerade mit einigen Kameraden in der Morgensonne am Rand der Bootswerft von Port Meadow entlang, eine gestohlene Zigarette wanderte von Hand zu Hand, und Rauch wurde genießerisch ausgeblasen, als sie den Schrei einer Stimme hörte, die sie

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