Der Goldene Kompass
schlanker als viele und hübscher als die meisten, aber als ich ihren Dæmon nirgends entdecken konnte, bekam ich einen furchtbaren Schrecken.«
»Haben Hexen denn keine Dæmonen?« fragte der andere Mann, der Michael Canzona hieß.
»Wahrscheinlich sind ihre Dæmonen unsichtbar«, sagte Adam Stefanski. »Und ihr Dæmon war zwar die ganze Zeit da, aber Farder Coram konnte ihn nicht sehen.«
»Nein, Adam, du irrst dich«, widersprach Farder Coram. »Er war nicht da. Hexen können über viel größere Entfernungen von ihren Dämonen getrennt sein als wir. Wenn es sein muß, können sie ihre Dæmonen mit dem Wind oder den Wolken oder über den Meeresboden weit weg schicken. Die Hexe, die ich kennenlernte, hatte sich gerade etwas ausgeruht, als ihr Dæmon angeflogen kam, denn natürlich hatte er ihre Angst und ihre Verletzung gespürt. Und ich bin überzeugt, auch wenn sie es nicht zugeben wollte, daß der große rote Vogel, den ich erschossen habe, der Dæmon einer anderen Hexe war, die sie verfolgte. Mein Gott! Wenn ich daran denke, überläuft es mich kalt. Hätte ich das geahnt, hätte ich das Gewehr stecken lassen und etwas anderes getan; aber nun war es geschehen. Jedenfalls hatte ich ihr ohne Zweifel das Leben gerettet, und sie schenkte mir ein Andenken und versprach, mir zu helfen, wenn ich Hilfe brauchte. Und einmal, als die Skrälinge mich mit einem vergifteten Pfeil angeschossen hatten, schickte sie mir tatsächlich Hilfe. Wir hatten auch noch andere Verbindungen… Zwar habe ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen, aber sie erinnert sich bestimmt noch an mich.«
»Und lebt sie in Trollesund, diese Hexe?«
»Nein, nein. Hexen leben in Wäldern und in der Tundra, aber nicht in einem Seehafen unter Männern und Frauen. Sie bevorzugen ein ungebundenes Leben. Aber sie haben dort ein Konsulat, und seid versichert, ich werde sie benachrichtigen.«
Lyra hätte gern mehr über Hexen erfahren, aber die Unterhaltung der Männer wandte sich anderen Themen wie Brennstoff und Vorräten zu, und so ging sie neugierig daran, den Rest des Schiffes zu erforschen. Sie schlenderte über das Deck in Richtung Bug und machte bald die Bekanntschaft eines Matrosen, auf den sie Apfelkerne schnippte, die sie noch vom Frühstück aufbewahrt hatte. Der Matrose war ein untersetzter und im Grunde friedfertiger Mensch, und nachdem er sie zuerst beschimpft und danach sie ihn beschimpft hatte, wurden sie dicke Freunde. Er hieß Jerry, und von ihm lernte Lyra, daß man Seekrankheit vorbeugen konnte, wenn man sich mit etwas beschäftigte, und daß selbst eine Arbeit wie Deckschrubben Spaß machen konnte, solange sie auf Seemannsart getan wurde. Lyra war davon so begeistert, daß sie später die Decken auf ihrer Koje auf Seemannsart faltete und ihre Sachen auf Seemannsart in den Schrank legte und das dann »verstauen« statt »aufräumen« nannte.
Nach zwei Tagen auf See fand Lyra, daß sie immer so leben wollte. Sie durfte sich vom Maschinenraum bis zur Brücke überall frei bewegen, und bald duzte sie sich mit der ganzen Mannschaft. Kapitän Rokeby ließ sie am Griff der Dampfpfeife ziehen, um einer holländischen Fregatte ein Signal zu geben, der Koch ließ ihre Hilfe beim Rühren des Mehlpuddings über sich ergehen, und nur ein strenges Wort von Farder Coram hielt sie davor zurück, den Fockmast hinaufzuklettern, um vom Krähennest aus den Horizont abzusuchen.
Die ganze Zeit fuhren sie Richtung Norden, und täglich wurde es kälter. Man suchte im Schiffsbauch nach Ölzeug, das auf Lyras Größe zurechtgeschnitten werden konnte, und Jerry brachte ihr Nähen bei, eine Kunst, die sie bereitwillig von ihm lernte, obwohl sie sie in Jordan College verachtet hatte und Mrs. Lonsdales Anleitungen aus dem Weg gegangen war. Gemeinsam mit Jerry schneiderte sie einen wasserdichten Beutel für das Alethiometer, den sie um die Taille tragen konnte — falls sie ins Wasser fiel, wie sie sagte. Das Alethiometer sicher verpackt, stand sie in Ölzeug und Regenhut an der Reling, wenn die salzig in den Augen brennende Gischt über den Bug spritzte und über das Deck strömte. Manchmal, vor allem wenn der Wind auffrischte und das Schiff in graugrünen Wellenbergen versank, wurde sie noch immer seekrank. Dann war es Pantalaimons Aufgabe, sie abzulenken, indem er als Sturmschwalbe über die Wellen glitt. Sobald sie die unbändige Freude spürte, mit der er durch Wind und Wetter schoß, vergaß sie ihre Übelkeit. Hin und wieder versuchte er sich sogar als
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